Jugendschutz:Es kann nicht sein, was nicht sein darf

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Ein Missbrauchsprozess in Frankfurt zeigt, wie schwer sich Behörden tun, wenn sie in vermeintlich besseren Kreisen ermitteln müssen.

Von Detlef Esslinger

Kinderthemen lagen der Redakteurin immer am Herzen. Sie schrieb über Bemühungen der Bundesregierung, gegen Gewalt in der Erziehung vorzugehen. Sie berichtete kritisch über das Frankfurter Jugendamt, das einer Immigrantin aus Russland beide Söhne wegnahm. Sie war mitverantwortlich für die Kinderseite des Wochenendmagazins.

Zurzeit aber ist sie von ihrem Arbeitgeber, der Frankfurter Rundschau (FR), freigestellt. Vor dem Frankfurter Landgericht läuft ein Prozess gegen ihren Lebensgefährten, der des schweren sexuellen Missbrauchs angeklagt ist. Er soll die zwölfjährige Tochter der Journalistin vor einem Jahr vergewaltigt haben. Die Mutter sagt als Zeugin aus.

Von einem Kriminalfall ist zu berichten, der alles andere als alltäglich ist: Das Mädchen ist nach der mutmaßlichen Vergewaltigung aus dem Badezimmerfenster im fünften Stock gestürzt. Es überlebte, wird aber behindert bleiben. Zu dem Vorfall kam es, obwohl die Schule und das Jugendamt seit Monaten wussten, dass dem Mädchen und seiner drei Jahre älteren Schwester in dem Haushalt augenscheinlich Gefahr drohte.

In dieser Zeit hat die Mutter jedoch mit Erfolg versucht, die Behörden auszubremsen - unter anderem, indem sie ihre Stellung als FR-Redakteurin ins Spiel brachte. Der Fall zeigt, wie schwer sich Ämter tun, wenn sie es nicht mit Familien aus dem Problemmilieu zu tun haben, sondern mit solchen aus vermeintlich besseren Kreisen.

Ohne Kontakt zur Außenwelt

Die Kinder der Redakteurin stammen von zwei verschiedenen Männern. Zum Vater des älteren besteht kein Kontakt, mit dem Vater des jüngeren ist sie noch verheiratet. Die Ehe ging Ende 2002 in die Brüche, die Scheidung läuft. Anlass für die Trennung war ihr heutiger Lebensgefährte, der jetzige Angeklagte T.

Das Leben der Mutter und ihrer Töchter muss sich fundamental verändert haben, nachdem sie den neuen Mann kennen lernte. Freunde berichteten vor Gericht, dass die Töchter zunehmend apathisch wirkten und den Kontakt zur Außenwelt praktisch einstellten. Im Februar 2003 rief die jüngere Tochter den Vater an, nur um ihm zu sagen, er solle bitte nicht heulen, aber falls er versuche, sie wiederzusehen, dann werde sie aus dem Fenster springen.

Einen 100-Seiten-Aufsatz verfasste sie, die Zwölfjährige, "freiwillig", sagte die Mutter vor Gericht. Dessen Titel: "Die ersten zehn Jahre meines Lebens mit meinem schrecklichen Vater." Zwei Monate später indessen packte das Mädchen um fünf Uhr früh einen Koffer und floh aus dem Haushalt der Mutter zu einer Freundin.

Waren das nicht alles bereits Warnsignale? Hätte nicht da schon jemand aufmerksam werden müssen?

Der Direktor des Frankfurter Gymnasiums, das die Schwestern damals besuchten, sagt heute: "Wenn man weiß, ein Kind stammt aus sozial schwierigen Verhältnissen, schrillen die Alarmglocken früher, als wenn es aus vermeintlich guten Kreisen stammt." Die Kinder lebten ja nicht im Bahnhofs- oder Gutleutviertel, den eher übel beleumundeten Stadtteilen, sondern in Bockenheim, dem alten Uni-Viertel.

Als die ältere Tochter nach den Herbstferien 2003 wieder in die Schule kam, wurden ihre Lehrer stutzig. Neun Wochen hatte sie gefehlt, angeblich wegen einer Lungenentzündung. Die Mutter schickte stets Entschuldigungen, Mitschüler versorgten das Mädchen mit Lernstoff. Niemand schien Verdacht zu schöpfen.

Aber als die 15-Jährige nun zurückkehrte, abgemagert, mit blauen Flecken, einem ausgeschlagenen Zahn und der Begründung der Mutter, dies sei die Folge einer Turnerei im Treppenhaus - da war dies eine Auskunft, "die uns nicht einleuchtete", wie der Schulleiter sagt. Er verständigte das Jugendamt; ebenso wie der Noch-Ehemann, der bis dahin dem Wunsch gefolgt war, keinen Kontakt mehr zu halten. Freunde hatten ihn auf die Zustände in der Familie aufmerksam gemacht.

Es dauerte noch acht Monate, bis es zum Fenstersturz kam. Acht Monate, in denen Behörden versagten, oder acht Monate, in denen die Mutter berechnend vorging?

Der Leiter des Frankfurter Jugendamts, Ingo Staymann, berichtet der Süddeutschen Zeitung, dass sich die Mutter zuerst kooperativ zeigte. Auf Druck des Amts kam das Mädchen zum Arzt, sein Zustand besserte sich. Die Behörde will auf weitere Kooperation gedrungen haben, auf Hausbesuche, auf Gespräche. Die Mutter weigerte sich, mit Hilfe einer Anwältin - und mit Briefen. "Diese weisen sie als Redakteurin der FR aus", sagt Staymann. Und nicht nur das: "Die Veröffentlichung wurde angekündigt."

Hat sich das Jugendamt davon beeindrucken lassen? "Wenn Sie wissen, dass alles, was Sie machen, Gegenstand öffentlicher Betrachtung werden könnte, wirkt sich das aus, zumindest unterschwellig", erklärt Staymann. Er spricht von zusätzlichem Druck, dem standzuhalten sei. Man kannte sich ja, von der Berichterstattung über die Mutter aus Russland.

Er bestreitet allerdings, dass es das Jugendamt war, an dem in den Monaten vor dem Fenstersturz die weitere Beobachtung der Familie scheiterte. Auf eine Kontaktaufnahme des Jugendamts mit den Kindern in der Schule reagierte die Mutter mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde, Hausbesuche ließ sie nicht mehr zu.

"So war es schwierig, dem Familiengericht Beweise für die Verletzung der elterlichen Sorge zu unterbreiten", sagt Staymann. Nach dem Fenstersturz erhielt das Jugendamt umgehend die Vormundschaft über beide Töchter. Die ältere lebt inzwischen bei den Großeltern in Norddeutschland.

Zu der mutmaßlichen Vergewaltigung ist es am Morgen des 3. Juli 2004 gekommen. Zeugen gibt es keine. Die Mutter sagte vor Gericht, ihr Lebensgefährte könne es nicht gewesen sein, er habe damals neben ihr im Bett gelegen, und ihr Schlaf sei so leicht, wenn er aufgestanden sei, habe sie das immer gehört. Sie habe aber nichts gehört. In der Mundhöhle des Kindes sind indes Reste eines Enzyms gefunden worden, das aus einer Prostata stammt - und andere Männer außer dem Angeklagten waren zur fraglichen Zeit nicht im Haus.

Ermittlungen gegen die Mutter

In dem Prozess gegen ihren Lebensgefährten, der am Donnerstag mit der nicht-öffentlichen Vernehmung der älteren Schwester fortgesetzt wird, tritt die Mutter ausschließlich als Zeugin auf. Gegen sie läuft aber ein gesondertes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt wegen des Verdachts der Misshandlung Schutzbefohlener.

Die Ärzte in der Frankfurter Uniklinik hatten nach dem Fenstersturz bei der Tochter Blutergüsse gefunden, die nach Meinung der Mediziner nicht von dem Sturz kommen konnten; am linken Bein und über dem Gesäß. Sie schalteten die Rechtsmedizin ein. Die Kollegen fertigten ein Gutachten an, auf dessen Basis die Staatsanwaltschaft nun gegen die Mutter ermittelt.

Zu dem Vorwurf sowie zu ihrem Verhalten gegenüber dem Jugendamt wollte die Mutter der SZ nichts sagen. In einer schriftlichen Stellungnahme von ihr heißt es, das Kind habe lediglich "blaue Flecken" gehabt, "deren Ursprung erst geklärt werden soll".

Die Frankfurter Rundschau informiert ihre Leser über den Prozess mit Agenturberichten; die Zeitung wollte keinem Redakteur die Berichterstattung über die Kollegin zumuten. Nach dem ersten Prozesstag bemängelte diese, darin seien sechs Fehler enthalten gewesen. Und wie reagierte die Frau, deren Name bis dahin in keinem Medium genannt worden war? Sie setzte eine Gegendarstellung durch. Mit vollem Namen. Im eigenen Blatt.

© SZ vom 20.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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