Jugendgewalt in Berlin:Weniger, aber brutaler

Überfälle, Faustschläge und gebrochene Nasen: Die Jugendgewalt in der Hauptstadt ist rückläufig. Doch die Bereitschaft, jemanden ernsthaft zu verletzen, steigt.

Constanze von Bullion, Berlin

Wer Berlin von seiner finsteren Seite kennenlernen will, braucht nur die Internetseite der Polizei zu besuchen, vorzugsweise am Montagmorgen. Dann sind in der Stadt die Partys vorbei, ihre Besucher sind mit Ausnüchterung beschäftigt und die Polizeibeamten mit der Erstellung einer Schadensbilanz. Die des vergangenen Wochenendes ist ansehnlich, allein im Bereich Jugendgewalt.

Juvenile Violence Raise In Germany

Jugendliche Gewalttäter attackieren häufig aus einer Gruppe heraus einzelne Personen - wie jüngst am Berliner S-Bahnhof Lichtenberg: Dort veranstalteten mehrere junge Männer eine regelrechte Hetzjagd auf einen Malergesellen.

(Foto: getty)

Laut Polizei geht es schon am Freitagnachmittag los, als drei Jugendliche in Alt-Friedrichsfelde im Ostberliner Bezirk Lichtenberg auftauchen. Geld her, sagen sie zu zwei jungen Männern. Um Druck zu machen, sollen die Jugendlichen sie ins Gesicht geschlagen, festgehalten und nach Geld abgetastet haben. Die Männer reißen sich los, die Jugendlichen werden geschnappt.

Die Täter entkommen - ein ums andere Mal

Etwa vier Stunden später wird ein 19-Jähriger in einem Park am Weddinger S-Bahnhof Gesundbrunnen von vier oder fünf Jugendlichen angesprochen, einer soll ihm ein Messer an den Hals gehalten haben, bevor er ihm Handy und Geld abnahm. Das Opfer landet mit kaputter Nase und Schnittwunden im Krankenhaus. Die Täter entkommen unerkannt.

Gegen 1 Uhr 40 läuft ein 17-jähriger Däne durch eine Neubaugegend in Prenzlauer Berg. Fünf junge Männer fragen ihn, ob er zu Besuch in Berlin sei, geleiten ihn ungefragt zum nächsten S-Bahnhof. Dort sollen sie ihm mit Fäusten ins Gesicht geschlagen und auch dann noch getreten haben sollen, als er am Boden lag. Die Täter entkommen mit dem Geld ihres Opfers.

Am Samstag gegen 20 Uhr 20 trifft es einen Obdachlosen am U-Bahnhof Hansaplatz in Moabit. Der 45 Jahre alte Mann soll mit Fäusten ins Gesicht geboxt worden sein, bis die Nase brach. Mutmaßliche Täter: fünf bis sechs Jugendliche. Die Beute: Zigaretten, Wein, ein Schlafsack.

Gegen 21 Uhr geht eine 43-jährige Frau durch die Grünanlage einer gepflegten Gegend von Wilmersdorf. Sie wird den Park mit schweren Gesichtsverletzungen verlassen. Fünf Jugendliche sollen sie überfallen, geschlagen, auf sie eingetreten haben, bevor sie mit ihrem Geld entkamen.

Keiner dieser Fälle ist abschließend untersucht, aber es sieht ganz so aus, als sei da jedes Mal aus einer Gruppe heraus auf einen einzelnen eingedroschen worden, von Tätern, die oft noch zur Schule gehen.

Solche Überfälle sind für die Opfer traumatisch, und das Gefühl des Ausgeliefertseins wird verstärkt durch die Erkenntnis, dass sich so etwas vor laufenden Überwachungskameras abspielen kann und in aller Öffentlichkeit. Wie im S-Bahnhof Lichtenberg, wo vor gut einer Woche vier Jugendliche eine regelrechte Hetzjagd auf zwei 30-Jährige veranstalteten und einen von ihnen mit einem Tritt lebensgefährlich verletzten, der Malergeselle liegt weiter im künstlichen Koma und wird wohl bleibende Schäden davontragen.

Rückläufige Statistiken

Der Fall löste über Berlins Grenzen hinaus Entsetzen aus. Seit ähnlich brutalen Übergriffen an Bahnhöfen in München und Hamburg in den vergangenen zwei Jahren ist wiederholt der diffuse Eindruck entstanden, in Deutschlands Großstädten würden arglose Passanten immer häufiger Opfer von gewaltbereiten Jugendlichen.

Täuscht dieser Eindruck?

Erfolge der Prävention

Wer sich bei den Behörden erkundigt, wie solche Überfälle verhindert werden können, hört wenig mehr als Ratlosigkeit - und den Hinweis dass die gefühlte Gewalt in keiner Weise mit der statistischen übereinstimmt. "Nach dem Fall in Lichtenberg ist die Wahrnehmung anders", sagt die Sprecherin von Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD). Der Senator hatte sich empört über die Attacke gezeigt. Ein Trend aber lasse sich daraus ganz bestimmt nicht ableiten, betont seine Sprecherin. "Die Jugendgruppengewalt ist in Berlin rückläufig".

In der jüngsten Berliner Kriminalstatistik ging die Gewalt von Jugendbanden tatsächlich um sechs Prozent zurück, Körperverletzungen um 13, Raubüberfälle um 23 Prozent. Das hat zum einen demographische Gründe. Mit der Zahl Jugendlicher in der Bevölkerung geht auch ihre Kriminalität zurück. Zum anderen verweist die Polizei auf Erfolge der Prävention.

Richter und Ermittler aber nehmen noch etwas anderes wahr: dass die Zahl der Taten abnimmt, nicht aber deren Brutalität. Bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) etwa heißt es, Berlins U-Bahn sei bundesweit eine der sichersten - gemessen allerdings an der Größe ihres Netzes. Bei "0,003 Prozent" der Fahrten komme es zu Gewalt gegen Fahrgäste, sagt BVG-Sprecherin Petra Reetz. "Die Anzahl der Übergriffe nimmt ab. Aber was wir erschrocken zur Kenntnis nehmen, ist die Bereitschaft, jemanden ernsthaft zu verletzten." Schon wegen einer Fahrpreiserhöhung könne es zu Streitereien kommen. "Wir erleben jetzt öfter, dass Messer oder andere Waffen im Spiel sind."

Auch bei dem Überfall am Bahnhof Lichtenberg gingen die Täter äußerst brutal vor. Und Passanten, die die Szenen beobachteten schritten nicht ein. Tätig wurde nur einer, der sich womöglich ebenfalls mit Gewalt auskennt. Unbestätigten Medienberichten zufolge soll ein Mitglied der Rockerbande Bandidos eines der Opfer vor den Verfolgern gerettet haben. Bei der Polizei will er sich nicht melden.

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