Jugendämter in Deutschland:Wie wir unsere Kinder retten können

Jugendämter prüften 107 000 Gefährdungen des Kindeswohls

"Eine ausreichende qualifizierte Überprüfung von Kindeswohlgefährdungen ist nicht mehr möglich", warnen zehn Berliner Jugendamtsdirektoren in einem Schreiben.

(Foto: dpa)
  • Jugendämter müssen schwierige Entscheidungen treffen: Greifen sie zu schnell ein, verletzen sie das Elternrecht. Warten sie zu lange, droht eine Katastrophe.
  • Die ausreichende Überprüfung des Kindeswohls gelingt den Ämtern mit der aktuellen personellen Ausstattung nicht.
  • Das Zusammenspiel von Ämtern und Gerichten ist nach deutschem Recht Glückssache.

Von Wolfgang Janisch

Vor einem Jahr ist die dreijährige Yagmur gestorben, totgeschlagen von der eigenen Mutter. Der Prozess ist vor Kurzem zu Ende gegangen, das Landgericht Hamburg hat die Mutter zu lebenslang und den Vater zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Und es hat deutlich gemacht, dass wohl auch andere Schuld auf sich geladen haben. Ein Jugendamt, eines von dreien, die sich seit ihrer Geburt um Yagmur gekümmert hatten, hat sie zu den Eltern zurückgeschickt.

Erst an diesem Donnerstag hat ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss in der Hansestadt das Behördenversagen dokumentiert. Auch Kevin war vom Jugendamt in Bremen betreut worden, bis er im Oktober 2006 tot im Kühlschrank der väterlichen Wohnung gefunden wurde.

Yagmur, Kevin - zwei Namen aus einer bedrückenden Reihe von Fällen, in denen Jugendämter zu spät und zu zögerlich eingegriffen haben.

Zu zögerlich, zu spät? Zu früh und zu forsch greifen Jugendämter und Familiengerichte ein, sagt das Bundesverfassungsgericht. Allein seit März hat das Gericht rund ein halbes Dutzend Entscheidungen kassiert, in denen Eltern auf Intervention des Jugendamts das Sorgerecht entzogen wurde - mal ging es um ein verhaltensauffälliges Kleinkind, mal um eine allzu symbiotisch mit der Mutter verbundene 15-Jährige. Nur bei akuter Gefahr für das Kindeswohl dürfen Gerichte den Eltern die Kinder wegnehmen.

Das Dilemma der Ämter

Die Jugendämter bewegen sich zwischen Scylla und Charybdis. Greifen sie zu schnell ein, verletzen sie das Elternrecht. Wolfgang Schwackenberg, Vorsitzender des Ausschusses Familienrecht beim Deutschen Anwaltverein, berichtet von einem Fall, in dem eine Mutter einen Anruf vom Amt bekam, sie müsse ihre Kinder heute nicht von der Kita abholen. Sie würden zu einer Pflegefamilie gebracht. Zwei Tage später revidierte das Amt seine Entscheidung. "Doch so etwas stürzt die Mutter in ein tiefes Loch", sagt der Anwalt.

Andererseits: Warten die Behörde zu lange, droht eine Katastrophe - und ihren Mitarbeitern womöglich eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung.

Doch den Jugendämtern den Schwarzen Peter zuzuschieben, wäre zu einfach, sagt Ludwig Salgo, über Jahre Vizepräsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Der Fehler liegt aus seiner Sicht im System - einem System aus Überbelastung und Unterfinanzierung, aus fehlender Kontrolle und mangelhafter Ausbildung.

Jede Behörde benötigt eine Kontrollinstanz

Es beginnt mit der Ausstattung der Ämter. Zehn Berliner Jugendamtsdirektoren haben vor zwei Jahren in einem offenen Brief das Problem eindrucksvoll auf den Punkt gebracht. Die Belastung der Ämter werde ständig erhöht: Die neuen Arbeitszeitfresser heißen Familienrechtsverfahrensgesetz, Kinderschutzgesetz, Reform des Betreuungsrechts, Änderung des Schulgesetzes, Dokumentationspflichten.

Zugleich würden Stellen abgebaut, um die Sparziele des Landes einzuhalten. Dann kam ein Satz, der alle Alarmglocken schrillen lassen müsste: "Eine ausreichende qualifizierte Überprüfung von Kindeswohlgefährdungen ist bei der derzeitigen personellen Ausstattung nicht mehr in allen Jugendämtern möglich."

Nun gehört es zum kleinen Einmaleins des Verwaltungswesens, dass jede Behörde eine wirksame Kontrollinstanz benötigt. Für Jugendämter aber existiert keine Fachaufsicht, sondern nur eine - wie es im Kinder- und Jugendbericht heißt - "sehr weitmaschig angelegte" Rechtsaufsicht durch die Landesjugendämter: Sie können fachliche Empfehlungen aussprechen, mehr nicht.

Subjektive Einschätzungen als Maßstab

Die Familienrechtsanwältin und einstige Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit hält eine wirksame Dienstaufsicht für nötig. Die Entscheidung, Kinder aus einer Familie herauszunehmen, beruhe oft auf wenig überprüfbaren subjektiven Einschätzungen. Die Tagesmutter informiere den Kinderarzt, weil sie das Kind für schlecht ernährt halte, der rufe das Jugendamt an, das dann das Kind in Obhut nehme und jeden Kontakt zu den Eltern unterbinde. "Dieses Recht hat das Jugendamt nicht. Eltern haben das Recht, ihr Kind zu sehen."

Für die Kontrolle der Behörden sind normalerweise die Gerichte da. Das Jugendamt kann bei gravierenden Gefahren für das Kindeswohl nur vorläufig die "Inobhutnahme" des Kindes verfügen; für den Entzug des Sorgerechts ist das Familiengericht zuständig. Dort müsste es eigentlich schnell gehen, doch nach einer vorläufigen Eilentscheidung können sich die Prozesse hinziehen - für die Kinder sind das Monate der Trennung von den Eltern. "Notwendig wäre eine zügige Hauptverhandlung", sagt Isabell Götz, Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstags.

"Ein einheitliches Kinderschutzgericht schaffen"

Zudem verheddern sich die Prozesse schnell in den Absurditäten des Verfahrensrechts. Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass den Familien zunächst wirksame Hilfen angeboten werden müssen, bevor man den finalen Schritt unternimmt, der Familien zerstören kann - Entzug des Sorgerechts, Trennung von Eltern und Kind.

Familienhilfen aber darf das Familiengericht nicht in eigener Hoheit anordnen. Zuständig dafür ist das Verwaltungsgericht - eine Instanz also, die mit Familiendingen sonst wenig zu tun hat. Stefan Heilmann, Richter am Frankfurter Oberlandesgericht, nennt das kafkaesk. "Man müsste ein einheitliches Kinderschutzgericht schaffen", sagt Heilmann. In der Schweiz arbeite man derzeit sogar mit einem Gericht, das mit Juristen, Sozialarbeitern und Psychologen besetzt sei.

Das Zusammenspiel von Ämtern und Gerichten aber ist nach deutschem Recht Glückssache. Familienrichter kann man nach dem ersten Jahr im Richteramt werden, eine Pflicht zur Weiterbildung in außerjuristischen Feldern gibt es nicht. Nächstes Jahr will der Deutsche Familiengerichtstag nach vergeblichen Anläufen einen neuen Versuch starten, das zu ändern.

Familienjuristen brauchen Vorkenntnisse

Denn eine fachübergreifende Ausbildung der Familienjuristen ist unverzichtbar: Zwar beauftragen die Richter im Zweifel psychologische Sachverständige. Doch schon um die richtigen Fragen an Gutachter zu formulieren, bedarf es gewisser Vorkenntnisse.

Muss der Kinderschutz am Ende auf allerhöchster Ebene aufgewertet werden - im Grundgesetz? Stefan Heilmann war früher skeptisch, ob eigene Grundrechte für Kinder wirklich nötig sind - verfassungsrechtlichen Schutz genießen sie ja längst. Inzwischen hat er seine Meinung geändert: "Mit einem Grundrecht für Kinder würden diese noch effektiver geschützt."

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