Japan:96 Stunden zu viel

In Japan ist ein Angestellter wegen Überarbeitung gestorben. Hoffnung, dass sich nun etwas ändert, gibt es kaum.

Von Christoph Neidhart, Tokio

In Japan sterben jede Woche Menschen an "Karoshi", was so viel heißt wie: Tod durch Überarbeitung. Nach monatelangem Überstundenschieben, für das sie nicht zusätzlich bezahlt werden, brechen sie zusammen. Am Montag nun wurde der Fall eines 42-jährigen Angestellten der Supermarktkette Inageya bekannt. Er leistete in einem Monat 96 Stunden Überzeit und regelmäßig 76 Stunden pro Monat. Bis er eine Hirnblutung erlitt, neben Herzinfarkten der häufigste Karoshi-Tod. Eine Woche später kam er wieder zur Arbeit, wurde erneut krank und starb.

Andere Opfer nehmen sich das Leben, wie eine 24-jährige Angestellte von Dentsu, der größten Werbeagentur Japans. Der Fall sorgte im März für Aufsehen: Ihr Chef zwang sie, zwei Monate in Folge je 105 Stunden Überzeit zu machen. Und tadelte sie, es gehöre sich nicht, übermüdet und ungepflegt zur Arbeit zu kommen. "Es ist ein Irrsinn, dass Dentsu es geschafft hat, dass sich diese Frau nach nur sechs Monaten umbrachte", sagte die Gewerkschafterin Hifumi Okunuki damals im SZ-Interview. Der Dentsu-Chef trat bald danach zurück, mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Firma.

Karoshi gibt es seit den 1980er-Jahren, es ist in Japan eine offizielle Todesursache, das Arbeitsministerium führt eine Statistik. Wenn das Arbeitsamt einen Tod als Karoshi einstuft, haben die Hinterbliebenen das Recht auf eine Rente und können eine Entschädigung des Arbeitgebers einfordern. Im Jahr 2015 klagten 1456 Familien wegen Karoshi, 96 erhielten recht. Dazu kamen 2116 Suizide, für die Überarbeitung eine der Ursachen war. Teil der aktuellen Debatte in Japan ist aber auch die Erkenntnis, dass sich seit Jahren wenig ändert - gegen Dentsu wird nicht zum ersten Mal ermittelt, die Zahl der Karoshi-Toten nimmt sogar zu. Die Regierung hat sich zwar verpflichtet, etwas zu tun: Sie will Unternehmen belohnen, die Überstunden reduzieren. Angestellte sollen zumindest 70 Prozent der Urlaubstage nehmen, die ihnen zustehen - meist ohnehin nur zehn pro Jahr. Aber viele nehmen selbst die nicht.

Er manipulierte seine Stempelkarte, damit die Firma keine Probleme bekommt

Neuerdings gibt es Aktivisten, die gegen Karoshi kämpfen, vor allem Hinterbliebene. Doch viele Familien ziehen es vor, zu schweigen, wenn sich das Opfer das Leben genommen hat, erst recht. Scheitern bedeutet Gesichtsverlust, und Karoshi ist für viele gleichbedeutend mit Scheitern.

Auch die Supermarktkette Inageya geriet schon früher wegen Karoshi in die Schlagzeilen. Sie war daher gewarnt, nicht zu viele Überstunden zuzulassen. Und deshalb manipulierte der 42-Jährige, der seit seinem 19. Lebensjahr für sie gearbeitet hatte, seine Stempelkarte. Seine Familie konnte nachweisen, dass er früher begann und später ging, als sein Arbeitsprotokoll auswies. Er hatte noch mehr Überstunden gemacht. Das ist keine Ausnahme: Das militarisierte Japan hämmerte den Menschen einst ein, sie sollten sich für den Kaiser opfern. Das sei die Ethik der Samurai.

Die Debatte um Karoshi dreht sich auch um die Produktivität. Überstunden bedeuten nicht, dass viel gearbeitet wird. Zumal es sich nicht gehört, vor dem Chef zu gehen, also bleiben auch jene, die fertig sind. Der Konformitäts- und Gruppendruck schon im Kindergarten tut sein Übriges - nicht nur in Japan. Inzwischen melden auch Südkorea, Taiwan und China Fälle von Karoshi.

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