Amoktaten in Japan:"Terrorismus der einsamen Wölfe"

Amoktaten in Japan: Polizisten in der Nähe des Tatorts, an dem vergangene Woche ein Mann vier Menschen getötet hat.

Polizisten in der Nähe des Tatorts, an dem vergangene Woche ein Mann vier Menschen getötet hat.

(Foto: Koki Kataoka/AP)

Ein 31-Jähriger tötet zwei Spaziergänger und zwei Polizisten. Der aktuelle Fall zeigt: Japan hat ein Problem mit einer kleinen Gruppe von Außenseitern, die in ihrem Frust eine zerstörerische Energie entwickeln.

Von Thomas Hahn, Tokio

Masanori A. schien zu lachen, als er die Polizisten erschoss. Das berichtet der Sender NHK mit Verweis auf Zeugenaussagen, und das ist ein weiteres bizarres Detail dieser ohnehin schon bizarren Bluttat von Nakano in der japanischen Präfektur Nagano.

Es war doch eigentlich wieder gar nichts los am Freitagnachmittag in der Gegend rund um das Bauernhaus, in dem A. mit seinen Eltern und seiner Tante lebte. Außer, dass zwei ältere Frauen im ländlichen Stadtteil Ebe auf der schmalen Straße, die an den Feldern vorbeiführt, wie üblich ihren Spaziergang machten.

Aber dann sah ein Nachbar, der in seinem Garten arbeitete, wie eine der Spaziergängerinnen rannte, wie Masanori A., 31, sie einholte und mit einem Messer mehrmals auf sie einstach. Ein anderer Mann, der gerade in der Nähe war, versuchte, die Frau wiederzubeleben, als ein Polizeiauto eintraf. Er sah Masanori A. mit einem Jagdgewehr. A. feuerte ins Auto.

"Terrorismus der einsamen Wölfe"

Vier Menschen sind am vergangenen Freitagnachmittag in Nakano gestorben: beide Spaziergängerinnen, Yukie Murakami, 66, und Yasuko Takeuchi, 70, sowie die Polizeibeamten Takuo Ikeuchi, 61, und Yoshiki Tamai, 46. Und keiner weiß so richtig, warum.

Masanori A. gab zwar auf, nachdem er sich zwölf Stunden im Haus der Familie verschanzt hatte. Die Zeitung Asahi berichtet, sein Vater, ein bekannter Stadtpolitiker, habe mit ihm gesprochen. A. soll dabei gesagt haben: "Ich dachte, dass die Leute schlecht über mich reden, weil ich immer allein war. Ich dachte dabei an eine bestimmte Frau, also habe ich sie erstochen." Aber das erklärt ja nicht wirklich diese extreme Gewalt.

Japan hat ein Problem mit einer kleinen Gruppe von Außenseitern, die in ihrem Frust eine zerstörerische Energie entwickeln. Der Fall von Nakano ist nicht der erste dieser Art.

Japan ist eigentlich ein sicheres Land. Strenge Waffengesetze tragen dazu bei, sicher auch die Erziehung der Einheimischen zu Bürgerinnen und Bürgern, die sich leise im Strom der Kollektivgesellschaft bewegen. Niemand soll stören, jeder und jede klaglos die zugewiesene Rolle erfüllen. Fast alle tun das auch. Aber wer nicht mitschwimmen kann im Strom, wer aneckt, kann sich hier sehr einsam fühlen. Einzelne scheinen dabei so sehr zu resignieren, dass ihnen das Leben anderer egal wird.

"Terrorismus der einsamen Wölfe im japanischen Stil", hat der Kriminalpsychologe Masayuki Kiriu von der Toyo-Universität in Tokio das Phänomen vergangenes Jahr in der Nachrichtenagentur Jiji genannt. Damals, im Juli 2022, hatte gerade der arbeitslose Tetsuya Y. den früheren Premierminister Shinzo Abe bei einer Wahlkampfveranstaltung in Nara erschossen.

Unpolitische, ideologiefreie Einzeltäter

Y. erklärte nach der Tat, er habe Rache an der neuen religiösen Bewegung Vereinigungskirche nehmen wollen, weil deren Spendenpraxis seine Mutter ruiniert habe; Abe hatte Verbindungen zu der Kirche.

Die Morde von Nakano sind eine ganz andere Geschichte, aber auch sie passen in Kirius Bild vom japanischen Terrorismus: Nicht Extremistengruppen verüben dabei Anschläge auf Staaten, Gruppen oder Institutionen wie beim internationalen Terrorismus - sondern unpolitische, ideologiefreie Einzeltäter auf Mitmenschen oder Einrichtungen, die aus ihrer Sicht an irgendwas schuld sind.

So war es auch im Dezember 2021, als ein Mann in einer Klinik in Osaka ein Feuer legte. 25 Menschen starben, später auch der mutmaßliche Täter selbst. In dessen Wohnung fand die Polizei unter anderem einen Artikel über einen Brandanschlag in Kyoto im Juli 2019. Damals hatte ein 41-jähriger Ex-Sträfling das Trickfilm-Studio Kyoto Animation angezündet, weil dieses angeblich ungefragt eine Geschichte von ihm verwendet hatte. 36 Menschen starben.

Anfang 2022 erschoss ein 66-Jähriger in Fujimino, Präfektur Saitama, einen Arzt, weil dieser seine tote Mutter nicht wiederbelebt habe. Im Dezember 2022 nahm die Polizei in Hanno, ebenfalls Präfektur Saitama, den 40-jährigen alleinlebenden Arbeitslosen Jun S. unter dem dringenden Verdacht fest, seinen amerikanischen Nachbarn, dessen Frau und dessen Tochter erschlagen zu haben. Der Amerikaner, der schon lange in Japan gelebt hatte, hatte S. zuvor drei Mal wegen Sachbeschädigung angezeigt.

Man könnte noch mehr aufzählen. Im April hätte Premierminister Fumio Kishida zum Opfer werden können, als ein 24-Jähriger bei einem Wahlkampfauftritt in Wakayama eine Bombe nach ihm warf. Die Bombe explodierte nicht gleich, es gab keine Verletzten - aber das war wieder so eine Tat aus Japans unergründlichen Tiefen. Und nun also Nakano.

Masanori A. soll ein schweigsamer Mann gewesen sein, der sich selten blicken ließ. Sein Vater gab an, sein Sohn habe Probleme im Umgang mit anderen gehabt und deshalb auf den Feldern des Familienbetriebs gearbeitet. Er war Sportschütze, Mitglied im Jagdverein, Inhaber von Lizenzen für vier Jagdgewehre. Und Masanori A. liebte seinen Hund. Er ließ ihn oft frei laufen. Deshalb hatte er Ärger mit den Nachbarn.

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