Süddeutsche Zeitung

Japan:Im Schlamm versunken

Eine gewaltige Matschlawine verwüstet den japanischen Kurort Atami. Zahlreiche Menschen werden noch vermisst. Und das Land bekommt wieder vorgeführt, wie der Klimawandel das Leben auf der Insel bedroht.

Von Thomas Hahn, Tokio

Die Lawine klang wie Platzregen. So hat Masaru Isei, 70, es der japanischen Nachrichtagentur Kyodo erzählt. Es war Samstag, nach halb elf. Er schaute aus einem Fenster im zweiten Stock seines Hauses in Atami, Präfektur Shizuoka. Er sah ein Bild der Zerstörung. Seine Lagerhütte war nicht mehr da, weggespült. Ein Auto auf dem Parkplatz versank im dunklen Morast. Masaru Isei und seine Frau verließen eilig das Haus und gingen zu Bekannten. Der Japaner erkannte seine Heimat nicht wieder. "Ich lebe hier seit 60 Jahren, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt", sagte er.

Es ist Regenzeit auf Japans Hauptinsel Honshū. Wie immer Anfang Juli, bevor sich die erdrückende Schwüle des Sommers durchsetzt. Aber Japans Regenzeit verändert sich, sie wird immer heftiger. Am Wochenende meldete das japanische Wetteramt JMA schon wieder für verschiedene Gegenden Rekordniederschläge. Und schon wieder lösten diese Niederschläge Überschwemmungen und Erdrutsche aus. Im Kurort Atami, in dem Masaru Isei seit 60 Jahren mit großem Vertrauen am Hang lebt, war es am schlimmsten.

Die Schlammlawine schoss am Samstagvormittag wie eine Flutwelle aus Wasser, Sand und Trümmern über einen Kilometer von der Wasserversorgungsanlage Izusan Nr. 1 Richtung Hafen. Etwa 120 Meter maß sie an der breitesten Stelle. Mindestens zwei Menschen riss sie in den Tod. Rund 700 Hilfskräfte von Polizei, Selbstverteidigungskräften und Feuerwehr suchten am Sonntag weiter nach 20 Vermissten. Die Bilder aus dem sonst so aufgeräumten Ort zeigten die enorme Kraft, mit der die Lawine durch die Idylle gebrochen war. Umgeworfene Wellblechwände. Zerrissene Balken. Ein Linienbus quer in den Trümmern. 128 Haushalte seien betroffen, teilte Bürgermeister Sakae Saito mit, etwa 130 Häuser beschädigt. Letztlich mussten 387 Menschen die Nacht in einer Notunterkunft verbringen.

Wegen des Regens erließen in der Präfektur Shizuoka laut der Zeitung Asahi insgesamt 15 Kommunen Evakuierungsbefehle, 18 waren es in Tokios Nachbar-Präfektur Chiba. Bei Zushi in der Präfektur Kanagawa, zwischen Tokio und Shizuoka gelegen, verschüttete eine Lawine eine Straße. In Numazu, Shizuoka, knickte eine Brücke über dem Fluss Kise ein, weil sie den Wassermassen nicht mehr standhielt.

Erdrutsche in Japan immer häufiger

In den ersten Stunden der Unwetterkatastrophe war keine Zeit, sich über größere Zusammenhänge Gedanken zu machen. Aber natürlich passten die dramatischen Ereignisse zum Trend. Die Zahl der verheerenden Regenereignisse nimmt zu. Im vergangenen Jahr hat Japans Regierung dazu Zahlen vorgelegt. Unter anderem diese: Zwischen 2010 und 2019 gab es im Inselstaat um fast 50 Prozent mehr Erdrutsche als in den zehn Jahren zuvor. Im Durchschnitt genau 1476 statt 1006 zwischen 2000 und 2009 und 1027 zwischen 1990 und 1999. Japan spürt den Klimawandel. Wegen seiner geografischen Voraussetzungen vermutlich sogar mehr als andere.

Als schmaler Inselbogen ragt Japan aus den Tiefen des Pazifiks. Das Land ist bergig, es gibt nicht viele Flächen, um zu leben und Landwirtschaft zu betreiben. Deshalb sind die Städte eng. Es gibt wenig Platz zwischen den Gebäuden, kaum Gärten. Viele Flüsse haben keinen Platz, sondern fließen zwischen steilen Betonmauern. Und der Häuserteppich reicht oft hoch hinauf in die schwer bebaubaren Hügel, als habe man keinen Quadratzentimeter Land verschenken wollen.

Über diese verbrauchte und versiegelte Landschaft kommen nun immer häufiger heftige Niederschläge. Es erscheint logisch, dass die gebändigten Flüsse dabei leichter über die Ufer treten und das bebaute Erdreich nachgibt. Die Regierung ist sich dieses Problems seit Jahrzehnten bewusst. Im Juni 2020 erklärte sie: Man arbeite an Abhilfe, wolle Uferzonen verbessern, unterirdische Auffangbecken anlegen, außerdem die Gesetzgebung so verändern, dass man bei der Auszeichnung von Gefahrengebieten strenger sein kann.

Fachleute sprechen immerhin dem Willen ihre Anerkennung aus. Maßnahmen gegen das Überschwemmungsrisiko seien in jeder Hinsicht "gut formuliert", schreiben Joan Fan und Guangwei Huang von der Schule für globale Umweltstudien an der Sophia-Universität in Tokio in einem Artikel zum Thema, allerdings: "Ob diese Bemühungen und Initiativen zu einer deutlichen Verminderung des Überschwemmungsrisikos führen, ist eine offene Frage."

Klagen über Sonnenenergie

Eine umfassende Debatte darüber, wie Japan sich umbauen müsste, um für die Folgen des Klimawandels gewappnet zu sein, ist nicht zu erkennen. Stattdessen hört man gerade im Zusammenhang mit den Schlammlawinen Klagen über eine abgasfreie Technologie, die eigentlich dazu beitragen soll, den Klimawandel abzumildern. Laut der Zeitung Mainichi melden 29 der 47 Präfekturen in Japan, dass die Energiegewinnung durch Sonnenenergie Erdrutsche verursache.

Nach dem Großen Ost-Japan-Erdbeben von 2011, das zur dreifachen Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi führte, entstanden zahlreiche großflächige Solarstromanlagen. Sie würden die Landschaft verschandeln, klagen manche. Und: Für sie würden Bäume gefällt, deren Wurzeln sonst das Erdreich festhielten. Mainichi zitierte Bauern aus Akaiwa in der Präfektur Okayama. Zwei Erdrutsche habe es gegeben, nachdem ein Unternehmen eine 82 Hektar große Solaranlage in der Nachbarschaft installiert habe. "Meine Reisfelder wurden unter Sand und Schlamm begraben", sagte einer.

Zur Schlammlawine Atami sagte der Bürgermeister Sakae Saito am Sonntag: "Wir kennen die Ursache nicht." Das Infrastruktur-Ministerium in Tokio habe ein Forschungsteam geschickt. Saito beschäftigen für den Moment sicher andere Themen. Am Sonntagabend waren die 20 Vermissten noch immer nicht gefunden, und durch seine Stadt läuft eine Schneise der Verwüstung.

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