80 Jahre Anonyme Alkoholiker:"Mein Name ist Andrew und ich bin Alkoholiker"

Whiskey-Trinker

Etwa 1,3 Mio. Menschen gelten in Deutschland als alkoholabhängig. Doch nur etwa zehn Prozent unterziehen sich einer Therapie.

(Foto: dpa)

Seit 80 Jahren kämpfen Menschen bei den Anonymen Alkoholikern gegen ihre Sucht. Zwei Millionen Mitglieder hat die wohl bekannteste Selbsthilfeorganisation weltweit. Doch ihre Ideologie ist nicht unumstritten.

Von Anna Fischhaber

"Mein Name ist Andrew und ich bin Alkoholiker", sagt der Mann in der Mitte des Stuhlkreises. "Hi Andrew", antwortet die Gruppe. Auch wer noch nie mit den Anonymen Alkoholikern (AA) zu tun hatte, kennt diese Szene. In diesem Fall findet sich bei einem AA-Treffen in Washington statt. Andrew, der Wirklichkeit natürlich anders heißt, erzählt nun: wie er zu trinken begann, wie der Alkoholgenuss außer Kontrolle geriet, wie die Sucht schließlich sein Leben zerstörte und wie er endlich bei einem Treffen der AA landete.

Während der Verzicht in allen anderen Lebensbereichen längst schick geworden ist, gehört ein Glas Bier oder Wein in vielen westlichen Gesellschaften noch immer zum guten Ton. Erklären muss sich nicht, wer gerne mal einen über den Durst trinkt, sondern der, der keinen Alkohol anrührt. Etwa 1,3 Millionen Menschen gelten in Deutschland als alkoholabhängig. Doch nur etwa zehn Prozent unterziehen sich einer Therapie.

Entzugsbehandlungen bieten fast alle größeren Krankenhäuser an. Doch was tun, um langfristig trocken zu bleiben? Ein Weg ist der Besuch der AA. Prominente wie Lindsay Lohan, Mel Gibson oder Naomi Campbell suchten schon Hilfe hier. Gut zwei Millionen aktive Mitglieder hat die wohl bekannteste Selbsthilfeorganisation nach eigener Zählung. 100 000 Gruppen gibt es weltweit, in Deutschland sind die AA nicht ganz so verbreitet, aber immerhin 2500 verschiedene Treffen existieren auch hierzulande.

US-Soldaten brachten die Idee nach München

"Die Vereinigung 'Alcoholics Anonymous' hält morgen, 14 Uhr, im Hotel Leopold ihre erste Versammlung ab." Mit dieser Zeitungsanzeige beginnt im Jahr 1953 die Geschichte der AA in Deutschland. US-Soldaten hatten die Idee nach München mitgebracht, "um die Genesungsbotschaft an deutsche Alkoholiker weitergeben zu können", wie es auf der Homepage der Organisation heißt. In den USA waren die Treffen damals längst etabliert. Bereits am 10. Juni 1935, also vor 80 Jahren, hatten Bob Smith und Bill Wilson die Organisation gegründet.

Börsenmakler Wilson war mehrfach in Entziehungskuren, doch immer wieder griff er zur Flasche. Seine Karriere an der Wall Street war längst ruiniert, seine Familie hatte ihn aufgeben, als er in einer Klinik ein religiöses Erweckungserlebnis hatte, das bis heute als eine Art Gründungsmythos der AA gilt. Wilson sah angeblich ein weißes Licht und beschloss sein Leben zu ändern: "Ich empfahl mich demütig Gott, so wie ich ihn damals verstand, und bat ihn, mit mir zu tun, was er wollte", schreibt er in seinem Weltbestseller "Big Book".

Wenig später lernte er auf einer Geschäftsreise Chirurg Smith kennen. Smith, ebenfalls Alkoholiker, und Wilson - damals ängstlich, er könnte doch wieder rückfällig werden - tauschten sich aus. Wilson überzeugte Smith von der Kraft Gottes beim Kampf gegen den Alkohol. Als beide merkten, dass ihnen das Gespräch über die Sucht half, war die Selbsthilfeorganisation geboren.

"Pseudoreligiöses Selbstverständnis"

Heute gilt Wilson ist den USA als Vorbild und Heilsbringer, seine schriftliche Lebensbeichte ist die Bibel der AA. Das "Big Book", in Deutschland "Blaues Buch" genannt, hat sich seit seiner ersten Veröffentlichung 1939 millionenfach verkauft und wurde in mehr als sechzig Sprachen übersetzt - man kann es heute auf Chinesisch, Hebräisch und in Farsi lesen, schreibt die FAZ.

Die Idee hinter den AA ist einfach: Der Zwang zum Trinken schwinde, wenn man sich mit anderen Betroffenen austausche. Die Anonymität macht die Sache für viele Menschen einfacher. Was heute in diversen Internetforen Alltag ist, war damals aber noch wenig verbreitet. Erfolge werden bei den Treffen gemeinsam gefeiert: Bis heute bekommen die AA-Teilnehmer Münzen in verschiedenen Farben als Auszeichnung, wenn sie 24 Stunden, einen oder mehrere Monate trocken sind. Die zwölf Schritte auf dem Weg aus dem Alkoholismus, die Wilson in seinem Buch beschreibt, sind eng an den christlichen Glauben angelehnt. Dem AA-Gründer ging es nicht nur darum, irgendwie trocken zu bleiben, sondern um Wiedergutmachung, um Spiritualität.

"Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann", heißt es im Blauen Buch etwa. Oder: "Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen." Auf der Seite der AA heißt es aber explizit, man begegne bei den Treffen Menschen "jeder Religion". (Mehr zu den zwölf Schritten der AA lesen Sie hier.)

Zahlreiche Nachahmer

Viele Mediziner, aber auch manche Abstinenzwillige tun sich schwer, einen Zugang zu diesen spirituellen und quasi religiösen Elementen der Selbsthilfeorganisation zu finden. Und doch sind die AA heute durchaus gesellschaftsfähig. Viele Beratungsstellen und sogar die bundesfinanzierte Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen verweisen auf die AA. Das liegt wohl vor allem an ihrem Erfolg.

"Auch wenn manche dieser Selbsthilfegruppen ein geradezu pseudoreligiöses Selbstverständnis haben, sind sie für die meisten eine große Hilfe. Wir sorgen deshalb in unserer Klinik dafür, dass bereits während der Therapie ein Kontakt zwischen den Patienten und den Selbsthilfegruppen aufgebaut wird", sagt etwa Karl Mann, Ärztlicher Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

Vielleicht deshalb beeinflussen Wilsons Prinzipien längst auch Menschen, die sich von ganz anderen Süchten befreien wollen: Anonyme Raucher, anonyme Glücksspieler und anonyme Drogenabhängige schwören 80 Jahre nach der Gründung der Anonymen Alkoholiker ebenfalls auf die zwölf Schritte.

(Mit Material der Agenturen)

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