40 Jahre "Ärzte ohne Grenzen":"9000 Patienten in neun Monaten"

Sie leisten medizinische Hilfe im Akkord und begeben sich oft selbst in Gefahr: Seit vierzig Jahren reisen die "Ärzte ohne Grenzen" in Kriegs- und Krisengebiete. Tankred Stöbe ist seit neun Jahren dabei. Der Chef der deutschen Sektion schildert die Arbeit der Ärzte, die unter widrigsten Umständen funktionieren muss - und wie sie sich seit den Anfängen verändert hat.

Johanna Bruckner

Schnelle, unbürokratische Hilfe bei Kriegen oder Naturkatastrophen leisten: Heute vor vierzig Jahren nahm diese Idee einer Gruppe Pariser Ärzte und Journalisten Form an, die Organisation "Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières)" war geboren. Die Mitarbeiter reisen dorthin, wo das Leid der Menschen groß ist und die Augen der Weltöffentlichkeit nicht hinreichen. Für sein Engagement um die Menschenrechte wurde das internationale Netzwerk 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Tankred Stöbe arbeitet in einem Berliner Krankenhaus als Arzt für Innere Medizin und ist Vorsitzender der deutschen Sektion. Zuletzt war der Mediziner im Sommer vier Wochen in Somalia: Zeit zum Akklimatisieren hatte er nicht - sofort nach der Ankunft warteten Dutzende schwerkranke, kleine Patienten auf den 42-Jährigen.

Dr. Tankred Stöbe in Mogadischu/Somalia, Ärzte ohne Grenzen

Seit fast zehn Jahren reist der Berliner Mediziner Tankred Stöbe für die Organisation Ärzte ohne Grenzen in Kriegs- und Katastrophengebiete. Zuletzt war er im Sommer in Somalia (im Bild).

(Foto: Ärzte ohne Grenzen)

sueddeutsche.de: Herr Stöbe, können Sie sich noch an Ihren ersten Einsatz erinnern?

Tankred Stöbe: Der hat mich 2002 direkt in den Dschungel geführt. In Myanmar (Schreibweise d. Red.: Birma) haben wir bei der Behandlung von Malaria geholfen. Vor Ort war nicht einmal eine medizinische Grundversorgung gewährleistet, die Krankheit ist eine Dauerbelastung für die Menschen. Der Bedarf war riesig: Wir haben in neun Monaten 9000 Patienten behandelt.

sueddeutsche.de: Das klingt nicht nach einem Job, um den sich Ärzte reißen ...

Stöbe: Bei den Einsätzen muss man ganz anders mit der Medizin umgehen. Die Entscheidung, für die humanitäre Hilfe ins Ausland zu gehen, bedeutet auch immer politisch instabile Verhältnisse, hygienische Missstände, klimatisch schwierige Bedingungen ... Darauf muss man sich einlassen können.

sueddeutsche.de: Wird man denn auf das vorbereitet, was einen am Einsatzort erwartet?

Stöbe: Bei Katastropheneinsätzen kommen die Anfragen oft kurzfristig. Als ich im Sommer für ein Projekt nach Mogadischu (Hauptstadt von Somalia, Anm. d. Red.) gefahren bin, hatte ich sehr wenig Vorbereitungszeit. Aber über die Jahre entwickelt man eine gewisse Routine, unabhängig vom Einsatzort. Die Probleme ähneln sich ja: Mangelernährung, Behandlung von Cholera und Malaria ... Für Ärzte, die zum ersten Mal bei einem Projekt dabei sind, gibt es ein einwöchiges Vorbereitungsseminar. Diese Kollegen werden in der Regel auch nicht in ein Bürgerkriegsgebiet geschickt.

sueddeutsche.de: Was machen Sie, wenn es vor Ort nicht einmal ein Krankenhaus gibt?

Stöbe: In Mogadischu haben wir uns in einem Gebäude einquartiert, das ursprünglich als Hotel gedacht war. In Liberia haben wir eine stillgelegte Schule zum Krankenhaus umfunktioniert. Und in Haiti, wo nach dem Erdbeben die komplette Infrastruktur zerstört war, haben wir in Containern operiert. Wir bringen aber nicht nur medizinisches Gerät und Medikamente mit, sondern auch Mitarbeiter: In vielen Krisenregionen gibt es keine Ärzte und medizinisches Personal.

sueddeutsche.de: Also können Sie vollkommen autark arbeiten?

Stöbe: Nein, ohne Helfer vor Ort geht es nicht. Auf einen Mitarbeiter von uns kommen in der Regel neun nationale Mitarbeiter. In Pakistan habe ich letztes Jahr 40 Bewerbungsgespräche geführt: Vom Arzt bis zur Reinigungskraft haben wir alles gesucht. Mit dem Anwerben und Einstellen beginnt dann die Weiterbildung der Einheimischen: In vielen Ländern, in denen wir tätig sind, gibt es überhaupt keine formale medizinische Ausbildung wie bei uns. Aber über die Jahre entstehen durch entsprechendes Training durchaus qualifizierte Mitarbeiter: Die haben dann zwar keinen offiziellen Abschluss, aber Praxiserfahrung.

"Wir gehen überall hin, wo die medizinische Not groß ist"

sueddeutsche.de: Wie entscheiden Sie, in welchen Ländern Hilfe benötigt wird?

Stöbe: Naturkatastrophen werden ja sehr schnell über die Medien publik. Ärzte ohne Grenzen ist mittlerweile in 60 Ländern weltweit vertreten: Die Chance, dass wir bereits vor Ort sind, wenn eine Katastrophe eintritt, ist relativ groß. Die meisten Krisen finden aber leider außerhalb des Medieninteresses statt: Wir haben gerade bei einer Routineuntersuchung in der Zentralafrikanischen Republik festgestellt, dass die Kindersterblichkeit dort dreimal höher ist als im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia. Das sind extrem beunruhigende Zahlen, doch die Welt nimmt davon keine Notiz.

sueddeutsche.de: Nach dem Tsunami in Japan und der anschließenden Nuklearkatastrophe bestand auch eine Gefahr für das Leben der Rettungskräfte. Entscheiden Sie sich in so einem Fall gegen einen Einsatz, auch wenn Ihre Hilfe benötigt wird?

Stöbe: Grundsätzlich gehen wir überall dorthin, wo die medizinische Not groß ist. Japan ist eigentlich ein Land, das genügend eigene Kapazitäten hat, um mit einem Notfall fertig zu werden. Das wäre für uns ein Grund gewesen, von einem Einsatz abzusehen. Aber nach der Dreifach-Katastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Nuklearkatastrophe waren wir natürlich vor Ort.

sueddeutsche.de: Wie hat sich die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen in 40 Jahren verändert?

Stöbe: Früher hieß es: Erst die Knochen heilen - und dann die Seele. Heute wissen wir: Je früher seelische Wunden behandelt werden, desto effektiver ist es. Im Gaza-Streifen habe ich erlebt, wie schwer traumatisiert die Menschen von dem chronischen Konflikt waren. Wir hatten dort Projekte, die ausschließlich psychologische Hilfe leisteten.

sueddeutsche.de: Wie gehen Menschen in rückständigeren Regionen mit diesem Hilfsangebot um?

Stöbe: Die Menschen nehmen sie an - auch wenn Aufklärung manchmal kaum Sinn macht. In Indonesien haben wir nach dem Tsunami 2004 erlebt, dass die Menschen gar nicht wussten, was eine posttraumatische Belastungsstörung ist. Die kamen mit Schlafstörungen, Herzrasen und Ängsten zu uns und haben ihre Beschwerden gar nicht mit dem Tsunami in Verbindung gebracht.

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