Jackson-Prozess:Die Wahrheit liegt in Neverland

Der Ankläger nennt ihn ein Raubtier, sein Anwalt ein naives Genie - bei einer Verurteilung wegen Missbrauchs drohen dem Popstar bis zu 18 Jahre Haft.

Von Andrian Kreye

Los Angeles, 3.Juni - Am Tag der Schlussplädoyers im Fall Nummer 1133603 des Volkes von Kalifornien gegen Michael Joe Jackson wirkten die Geschworenen erschöpft.

Jackson, Reuters

Die Wahrheit kennt nur Jackson und der Kläger. Es bleiben Spekulationen und Vermutungen.

(Foto: Foto: Reuters)

64 Verhandlungstage hatten sie im Saal C des Kreisgerichtes in Santa Maria ausgeharrt. Das ist ein fensterloser Raum mit klaustrophobisch niedrigen Decken, den das stotternde Rauschen einer defekten Klimaanlage füllt.

Auch das Edelholzfurnier und die Niedervoltlampen konnten nicht über die bedrückende Atmosphäre hinwegtäuschen. 86 Zeugen der Anklage und 52 Zeugen der Verteidigung hatte die Jury angehört, 684 Beweisstücke begutachtet, und am Mittwoch schließlich die Anweisungen des Richters Rodney Melville empfangen, die alleine 98 Seiten umfassen.

"Sie dürfen sich weder vom Mitleid noch von Ihrer Voreingenommenheit gegenüber dem Angeklagten beeinflussen lassen", ermahnte er sie. Weder Gefühle, Vermutungen, Sympathien, Leidenschaften, Vorurteile noch öffentliche oder landläufige Meinungen dürften bei ihrer Entscheidung eine Rolle spielen, ob und in welchem der zehn Hauptanklagepunkte Michael Jackson schuldig sei.

Es sollte der Prozess des Jahrhunderts werden, als die Verhandlungen im Februar begannen. Es galt zu klären, ob der 46-jährige Michael Jackson vor zwei Jahren einen damals 13-jährigen krebskranken Jungen mit Alkohol gefügig gemacht und sexuell belästigt hat oder nicht.

Gleich 250 Superstar-Freunde des Superstars wollte Verteidiger Thomas Mesereau in den Zeugenstand berufen. Da sollten Elizabeth Taylor, Diana Ross und Stevie Wonder den Leumund Jacksons retten, Komiker wie Jim Carrey, George Lopez und Jay Leno sollten bezeugen, dass die Angehörigen des Klägers geldgierige Gauner seien.

Schmierenstück mit Pornos

Doch statt eines glamourösen Gerichtsdramas, das die ganze Welt in Atem hielt, wurde dann nur ein provinzielles Schmierenstück gegeben, in dem die Staatsanwaltschaft Pornohefte aus Michael Jacksons Nachtkästchen präsentierte, während sich die Verteidigung darauf beschränkte, die Familie des Klägers mit einer Strategie unmöglich zu machen, die man im Englischen character assassination nennt - Persönlichkeitsvernichtung.

In den USA interessierten sich zum Schluss nur noch eine Hand voll Nischensender und ein paar geifernde Hetzer in den Demagogen-Talkshows auf CNN und Fox News für den Verlauf des Verfahrens.

Erst Mitte der Woche klinkten sich die seriösen Medien wieder ein, schließlich geht nun doch der Prozess gegen einen der größten Stars in der Geschichte des amerikanischen Pop zu Ende.

Schlusskapitel einer Heldensaga

Und nicht nur das: Wenn die Geschworenen aller Voraussicht nach nächste Woche ihren Schuldspruch verkünden, wird wohl das Schlusskapitel geschrieben in der Saga einer Ikone.

Deren Metamorphose vom kindlichen Hoffnungsträger der Bürgerrechts-Ära zum genialischen Weltstar und grotesken Sonderling bis zum angeklagten Sittenstrolch ist wohl eine der bizarrsten Geschichten der Popmythologie.

Das jüngste Kapitel dieser Saga begann im Jahr 1993, als der kalifornische Zahnarzt Evan Chandler im Namen seines damals zwölfjährigen Sohnes Jordan eine Klage wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger gegen Michael Jackson anstrengte.

Eine Grand Jury entschied damals, der Fall sei mangels Beweisen nicht verhandelbar, und auch das Jugendamt sah keine konkreten Anhaltspunkte für die Vorwürfe, worauf Chandler eine zivilrechtliche Klage anstrengte. 20 Millionen Dollar wollte er haben. Jacksons Anwalt riet, sich außergerichtlich zu einigen, um einen langwierigen, peinlichen und kostspieligen Prozess zu vermeiden.

Jackson bezahlte unter der Bedingung, dass die Familie Chandler fortan nicht mehr mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeite.

Die Familie willigte ein. Zum großen Ärger von Tom "Mad Dog" Sneddon, dem gefürchteten Staatsanwalt am Kreisgericht von Santa Maria, der Jacksons Winkelzug sehr persönlich nahm.

Mehr als zehn Jahre lang suchte der vierschrötige Mann mit dem Cowboy-Schnurrbart nach belastendem Material - bis ihm der Dokumentarfilm "Living with Michael Jackson" in die Hände fiel, die der Fernsehjournalist Martin Bashir für die BBC produziert hatte.

Da sieht man in einer Szene, wie Jackson Hand in Hand mit dem heutigen Kläger in seiner Küche sitzt und erklärt, es sei doch nur ein Zeichen großer Zuneigung und großen Vertrauens, wenn man sein Bett mit Kindern teile.

Im Nu hatten Ermittler im Auftrage des Staatsanwaltes die Familie des Knaben in den mexikanischen Ghettos von East Los Angeles gefunden. Und es dauerte auch nicht lange, bis sie die allein stehende Mutter und ihre drei Kinder davon überzeugt hatten, gegen Jackson auszusagen. Diesmal sollte der Superstar dem Staatsanwalt nicht entkommen.

Sneddon ließ Jackson erst einmal verhaften, um die Machtverhältnisse von vorneherein zu klären. Vor laufenden Fernsehkameras wurde er in Handschellen aufs Polizeirevier gebracht, das Verhaftungsfoto, das Jacksons maskenhaftes Gesicht mit der Häftlingsnummer zeigte, an die Presse gegeben.

Eine halbe Hundertschaft Polizisten durchsuchte dann Jacksons Neverland Ranch in der Nähe des Badeortes Santa Barbara, ein mehr als tausend Hektar großes Anwesen mit einem Zoo und einem Vergnügungspark, wohin Jackson mit seinen wohltätigen Organisationen über die Jahre hinweg Tausende Kinder unterprivilegierter Familien eingeladen hat. Darunter auch die Familie des Klägers, der schwer krebskrank war.

Schier endlos zogen sich die Verhandlungen seit dem Februar hin. Meist verhaspelte sich die Anklage in ihren Vorwürfen, die von den Zeugen aus der Familie des Klägers oft nur mäßig überzeugend belegt wurden.

Verteidiger Thomas Mesereau nahm die Zeugen der Anklage meist rhetorisch brillant auseinander, konnte aber selbst kaum Zeugen vorweisen, die überzeugten.

Tiefpunkt war sicherlich der Tag, an dem die Staatsanwaltschaft die Pornohefte und Fotobücher aus Michael Jacksons Nachtkästchen und Kleiderschränken großflächig an die Wand projizierte.

Die Wahrheit liegt in Neverland

Sexheftchen wie Playboy und Hustler waren darunter, antiquarische Nudistenmagazine und Fotoessays aus den dreißiger und fünfziger Jahren, sowie ein Bildband mit nackten jungen Männern von dem Modefotografen Herb Ritts, der bei mehreren Musikvideos von Michael Jackson und seiner Schwester Janet Regie geführt hatte.

Jackson, AP

Müde und erschöpft: Michael Jackson

(Foto: Foto: AP)

Prüdes kalifornisches Hinterland

Auch ein Buch aus den fünfziger Jahren war zu sehen, das Knaben in Badehosen beim Spielen im Wald und an einem See zeigt und durchaus homoerotische Züge hat.

Im Inneren die Inschrift Jacksons: "Dies ist die Kindheit, die mir verwehrt blieb."Alles ganz legale Publikationen, wie die Verteidigung immer wieder anmerkte.

Doch die wandgroßen Projektionen dürften ihre Wirkung bei einer Jury, die im prüden kalifornischen Hinterland lebt, nicht verfehlen.

Nun geht der Prozess offiziell zu Ende. Staatsanwalt Ronald Zonen hatte am Donnerstag das erste Schlussplädoyer gehalten. Drei Stunden lang redete er auf die Geschworenen ein. Er beschrieb Jackson als "Raubtier" und sein Schlafzimmer auf dem Anwesen der Neverland Ranch als "Festung", in die er seine halbwüchsigen Opfer mit Alkohol und Pornos lockte.

"Der Löwe in der Serengeti jagt die schwächste der Antilopen, nicht die stärkste", sagte der Staatsanwalt, offensichtlich ohne den rassistischen Unterton seines Tiervergleiches zu bemerken, schließlich steht hier ein schwarzer Superstar vor einer Jury, in der kein einziger Schwarzer sitzt.

Ansonsten war dem Staatsanwalt vor allem die Pornosammlung Jacksons wichtig. "Finden Sie es in Ordnung, dass ein Mann mittleren Alters, der solche Pornografie besitzt, mit 13-Jährigen ins Bett steigt?"

Und er brachte noch einmal in Erinnerung, dass all die Vorwürfe gegen Jackson während der letzten zwölf Jahre ein klares Muster zeigten, das Beweis genug sein sollte, ihn schuldig zu sprechen.

"Benutzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand", sagte Zonen. Sie sollten auch nicht vergessen, dass Verteidiger Thomas Mesereau viele seiner Versprechungen nicht eingehalten und keineswegs all die Zeugen vorgeführt habe, die die Familie des Klägers belasten sollten.

Die Staatsanwaltschaft hatte sich schon zuvor immer wieder auf Mesereau eingeschossen, weswegen der gleich zu Beginn seines Schlussplädoyers konterte, ein Staatsanwalt sei in Bedrängnis, wenn er so viel Mühe darauf verwende, den Verteidiger anzugreifen.

Es sei auch ein deutliches Zeichen dafür, dass die Anklage keine stichfesten Beweise habe, wenn sie darauf zurückgreifen müsse, Jackson als Alkoholiker und Porno-Leser zu porträtieren, wenn sie anführe, dass er finanzielle Schwierigkeiten habe und seine Karriere am Ende sei.

Es fällt einem selbst als Unbeteiligter schwer, sich auf eine Seite zu schlagen. Weder hat die Staatsanwaltschaft die Schuld, noch hat die Verteidigung die Unschuld Michael Jacksons klar bewiesen.

Vor Gericht wirkten der Kläger und sein Bruder nicht besonders glaubwürdig. Und da waren die unzähligen Indizien, dass es sich bei der viel zitierten Klage von 1993 um einen Fall von Erpressung gehandelt hatte.

Das hatte selbst die Polizei schon untersucht, musste jedoch abbrechen, als Michael Jackson sich damals außergerichtlich einigte und zahlte.

Jackson wirkte diese Woche noch magerer und fahriger als sonst. Gegen seinen schwarzen Anzug und die glatt gezogenen schwarzen Haare erschien sein Hautton im grellen kalifornischen Sommerlicht noch grauer und fahler.

Nach den Schlussplädoyers konnte er nur noch "Ich bin okay" in die Mikrofone hauchen, bevor er im Fonds dieses Geländewagens mit den verdunkelten Scheiben verschwand, der ihn seit Februar am Morgen jedes Verhandlungstages aus der gut eineinhalb Stunden entfernten Phantasiewelt der Neverland Ranch in die Realität des Provinzgerichtes von Santa Maria gebracht hatte.

Der Privatdetektiv plaudert

Es ist schwer abzusehen, wie die Jury nun entscheiden wird. Selbst die Rechtsexperten, die seit Monaten ihre Vermutungen im Fernsehen äußern, kamen mit ihrer Schlaumeierei zum Schluss des Prozesses nicht mehr weiter.

In letzter Instanz wird man nie die ganze Wahrheit erfahren. Nur Michael Jackson und der Kläger können wissen, ob und was da vorgefallen ist. Es ist nun an den braven Bürgern von Santa Maria, zu entscheiden, welches der beiden Teams sie überzeugender fanden.

Erklären sie Michael Jackson in nur einem der Punkte für schuldig, wird Richter Rodney Melville das Strafmaß festsetzen. Allzu viel Spielraum haben amerikanische Richter dabei nicht.

Alleine auf die Verabreichung von Alkohol an Minderjährige stehen bis zu drei Jahren Gefängnis. Das war bisher auch der einzig klar bewiesene Punkt.

Um Jackson davor zu bewahren, wegen dieser Lappalie ins Gefängnis zu müssen, stufte Richter Melville diesen Punkt letzte Woche schon von der Straftat zum Vergehen herunter.

Doch es reicht schon, wenn die Geschworenen Michael Jackson für "den Versuch, einen unzüchtigen Akt an Minderjährigen zu verüben" schuldig befinden. Bis zu vier Jahre Gefängnis stehen darauf. Insgesamt drohen bis zu 18 Jahre Haft.

Jackson hat panische Angst vor dem Gefängnis. Das hat nun sein ehemaliger Privatdetektiv Gordon Novel der Zeitschrift Vanity Fair erzählt. Jackson habe sich mehrere Male danach erkundigt, ob man im Gefängnis denn auch fernsehen und Filme schauen dürfe.

Vermutung und Spekulation

Doch auch das ist kein Beweis, denn niemand kann wissen, ob der Popstar Panik hat, weil er sich schuldig fühlt. Oder ob er nur weiß, dass kaum ein Vorwurf so gravierend ist, wie der, ein Kind sexuell missbraucht zu haben, und dass schwarze Angeklagte von amerikanischen Jurys und Gerichten prinzipiell strenger behandelt werden.

So bleibt den Außenstehenden nur, was den Geschworenen verboten ist - Vermutung und Spekulation.

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