Süddeutsche Zeitung

Island:Wenn im friedlichsten Land der Welt eine Frau verschwindet

  • In Island vergeht manchmal ein ganzes Jahr ohne Tötungsdelikt, jetzt verdächtigt die Polizei im Fall einer verschwundenen Frau zwei Matrosen wegen Mordes.
  • Viele Isländer beschäftigt der Fall.

Von Viktoria Bolmer

Island hat die niedrigste Kriminalitätsrate der Welt. Manchmal vergeht ein ganzes Jahr ohne Tötungsdelikt. "Wir fühlen uns hier sehr sicher", sagte der isländische Krimi-Autor Ragnar Jonasson im Interview mit SZ.de über das friedliche Leben am nördlichen Rand Europas. "Die Leute haben keine Angst, in der Dunkelheit das Haus zu verlassen, oft sperren sie ihre Tür nicht einmal ab." Einen grausamen, brutalen Mord? Das ist normalerweise etwas, was sich Autoren wie Jonasson ausdenken.

Bis am Samstagmorgen die 20-jährige Birna Brjánsdóttir in Reykjavík verschwindet - und die Polizei von einem Verbrechen ausgeht. Zuletzt wird die Frau um fünf Uhr morgens gesehen, wie sie eine Bar verlässt. Auf den Aufnahmen von Überwachungskameras ist die junge Frau mit den langen roten Haaren gegen fünf Uhr früh in der Nähe der Bar zu sehen, kurze Zeit später im Bild: ein rotes Auto. Die Polizei vermutet, dass Brjánsdóttir eingestiegen ist. Ihre Stiefel finden Ermittler am Dienstag in Hafnarfjörður, einer Hafenstadt südlich von Reykjavík, berichtet das Iceland Magazine. Suchtruppen durchkämmen tagelang die Umgebung. Ohne Erfolg.

Sie werten weitere Kamerabilder aus, entdecken das rote Auto auch auf Aufzeichnungen in der Nähe des Hafens. Ermittler finden den roten Pkw am Dienstag, es handelt sich um einen Mietwagen, geliehen von drei Matrosen eines grönländischen Fischdampfers, der am Wochenende im Hafen angelegt hatte. Als das Auto gefunden wird, sind die Männer bereits wieder auf See.

In dem Auto findet die Polizei Hinweise auf ein Verbrechen - und auf die junge Frau. Sie beordert das Schiff, auf dem die Seemänner angeheuert hatten, zurück nach Island und nimmt drei der Matrosen fest. Ermittler durchsuchen das Schiff nach der Frau, finden stattdessen mehr als 20 Kilogramm Haschisch in den Sachen einer vierten Person. In einem Land, in dem so gut wie nie ein Verbrechen stattfindet, und noch viel seltener ein Mord, sind das zu viele Zufälle auf einmal. "Es ist alles miteinander verbunden", sagte ein Sprecher der Polizei einer Lokalzeitung.

Die Männer werden dem Richter vorgeführt. Zwei sind des Mordes verdächtigt, der dritte ist nach der Vernehmung wieder auf freiem Fuß. Auch der mutmaßliche Besitzer der Drogen steht weiter unter Arrest. Bisher bestreiten die Beschuldigten, etwas mit dem Verschwinden der Frau zu tun zu haben.

Viele Menschen sind entsetzt. Die isländische Autorin Alda Sigmundsdóttir schreibt auf Facebook: "Alles andere kommt mir so unwichtig vor, gemessen an der Suche von Birna Brjánsdóttir, die unsere kleine Gemeinschaft bis ins Mark erschüttert." Zwei Tage später fügt sie hinzu: " Als Nation müssen wir irgendwie damit klarkommen, was da passiert ist. Ich denke, ich spreche für die meisten von uns, wenn ich sage, dass all unsere Gedanken bei Birna und ihrer Familie sind. Wie auch immer es ausgeht, ich hoffe, wir wissen es bald."

Als in Island 2013 Polizisten zum ersten Mal einen Mann erschossen, war die Bevölkerung schockiert. Ein Mann hatte mit einem Jagdgewehr aus seinem Wohnungsfenster in Reykjavik geschossen, die Polizei hatte vergeblich versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Sie stürmten die Wohnung. Der Mann schoss weiter, bis das Einsatzkommando ihn tödlich verletzte. "Beispiellos" nannte der Polizeidirektor Haraldur Johanessen den Fall damals.

In anderen Ländern sind die Menschen mehr oder weniger daran gewöhnt, dass es Gewaltverbrechen gibt. In Island kennt fast jeder jeden. Wenn dort einem der 320 000 Einwohner etwas passiert, ist es für alle eine riesige Tragödie.

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