Süddeutsche Zeitung

Islam:Menschen, die zur Masse werden

Fast zwei Millionen Muslime pilgern in diesen Tagen nach Mekka. Diese Grafiken erklären, worum es bei der Wallfahrt geht - und was sie so riskant macht.

Von Katharina Brunner und Christian Endt

Der Hadsch gehört zu den größten Menschenansammlungen der Welt. Jedes Jahr kommen für wenige Tage um die zwei Millionen Muslime nach Mekka, um ihre religiöse Pflicht zu erfüllen. Die vier- bis sechstägige Pilgerreise nach Saudi-Arabien im letzten Monat des islamischen Kalenders gehört zu den fünf Säulen des Islam. Im Koran heißt es: "Und die Menschen sind Gott gegenüber verpflichtet, die Wallfahrt nach dem Haus zu machen - soweit sie dazu eine Möglichkeit finden." Wer es sich leisten kann, sollte also den Hadsch einmal im Leben mitmachen.

Die schiere Masse an Menschen auf engstem Raum erfordert eine gigantische Logistik. Die Millionenstadt Mekka ist das ganze Jahr über ein Zentrum des Tourismus in Saudi-Arabien, aber während des Hadsch wird alles übertroffen. Viele Fluggesellschaften fliegen saudische Flughäfen in dieser Zeit mit zusätzlichen Maschinen an. Ein großer Teil der Pilger wohnt während der Wallfahrt in einer riesigen Zeltstadt mit 45 000 Zelten. Etwa 100 000 Einsatzkräfte sollen laut saudischem Innenministerium für Sicherheit sorgen. Im vergangen Jahr kamen zum Hadsch 1,8 Millionen Menschen nach Mekka, 780 681 davon waren Frauen. Mehr als 70 Prozent der Pilger kamen aus dem Ausland auf die arabische Halbinsel, die meisten von ihnen reisen gewöhnlich aus Indonesien, Pakistan und Bangladesch an.

Die Stationen der Pilger

Der Hadsch findet jedes Jahr im letzten Monat im islamischen Kalender statt, dem Pilgermonat Dhul Hidscha. Dieser religiöse Kalender ist ein Mondkalender und deshalb elf Tage kürzer als der Sonnenkalender. Die Pilgerreise startet deshalb jedes Jahr an einem anderen Tag. 2018 ist es der 19. August. Im September wird es in Mekka durchschnittlich bis zu 43,8 Grad warm - und auch nachts fällt die Temperatur nicht unter 28 Grad Celcius.

1) Mikat: In unmittelbarer Nähe von Mekka treten die Pilger für die Zeit des Hadsch in den Weihezustand Ihram ein. Dazu gehört eine rituelle Waschung und spezielle Kleidung für Männer. Sie tragen bis zum Ende der Pilgerreise zwei weiße Tücher. Für Frauen gibt es keine festgelegte Kleidung, nur zwei Verbote: Das Gesicht darf nicht verschleiert sein und sie dürfen keine Handschuhe tragen. Bis zum Ende der Reise ist es verboten, Sex zu haben und Blut zu vergießen. Es wird auch davon abgeraten, Insekten zu töten.

2) Mekka am 1. Tag: Die erste Station ist die größte Moschee der Welt, die al-Haram-Moschee in Mekka. Dort befindet sich die Kaaba. Der schwarze Würfel ist - zumindest für Nicht-Muslime - das Symbol schlechthin für die Reise nach Mekka. Sieben Mal umrunden die Pilger die Kaaba im Innenhof der Moschee. Danach laufen Männer sieben Mal zwischen den Felsen Safa und Marwa hin und her. Anders als die Männer können die Frauen gehen, nicht laufen.

3) Mina am 1. Tag: Bei der Pilgerreise wird nicht nur in der Gruppe gebetet, sondern auch nicht alleine geschlafen: 45 000 weiße Gruppenzelte stehen in Mina für die Nachtruhe zur Verfügung.

4) Berg Arafat am 2. Tag: Für den Hadsch ist das Beten am Berg Arafat zentral, ohne ist sie ungültig. Die Pilger verbringen die Zeit zwischen Mittag und Sonnenuntergang am Ort von Mohammeds letzter Predigt. Nach Sonnenuntergang machen sie sich auf den Weg in die Ebene von Muzdalifah.

5) Ebene von Muzdalifah am 3. bis 5. Tag: Auf halber Strecke zwischen Mina und dem Berg Arafat beginnt nach Sonnenuntergang die Vorbereitung für die nächste Station: Jeder sammelt Kieselsteine für ein Ritual zu späterer Zeit. Es erinnert daran, wie Abraham den Teufel mit Steinen bewarf, als dieser ihn davon abzubringen versuchte, seinen Sohn Ismail Gott zu opfern. Statt in einem Zeltlager verbringen die Pilger die Nacht unter freiem Himmel.

6) Jamarat-Brücke am 3. bis 5. Tag: An der Jamarat-Brücke in Mina setzen die Pilger ihre gesammelten Steine ein und werfen sie auf drei Säulen, die den Teufel symbolisieren.

7) Mina am 3. bis 5. Tag: Zurück in Mina bringen die Pilger ein Tieropfer. Dafür werden während dem Hadsch etwa eine Million Tiere geschlachtet, deren Fleisch an Bedürftige geht. Das ist der Auftakt zum Opferfest, das von Muslimen weltweit gefeiert wird und als höchstes Fest im Islam gilt.

8) Mekka am 6. Tag: Am letzten Tag der Wallfahrt kehren die Pilger zurück nach Mekka und umrunden noch einmal die Kaaba. Am Ende des Hadsch rasieren sich Männer die Haare, Frauen kürzen sich die Haare etwas. Das soll ihnen das Gefühl geben, das Leben neu zu beginnen - mit guten Vorsätzen. Der Hadsch gilt für viele Muslime als Neubeginn, denn wenn sie korrekt durchgeführt ist, werden einem Sünden vergeben, so heißt es in Überlieferungen des Propheten.

Fast jedes Jahr kommt es bei dem Hadsch zu Massenpaniken oder Unfällen, manchmal sterben dabei hunderte oder tausende Pilger. Eine Veranstaltung dieser Großenördnung sicher durchzuführen, ist eine gigantische logistische Herausforderung.

Ein besonders gefährlicher Punkt ist Jahr für Jahr die Jamarat-Brücke. Sie ist nicht nur das Nadelöhr auf dem Weg zwischen der großen Moschee in Mekka und dem zentralen Zeltlager in Mina. Auf der Brücke, die häufig von sehr vielen Pilgern zur gleichen Zeit besucht wird, findet auch die rituelle Steinigung des Satans statt. Deshalb trampeln sich die Leute hier immer wieder gegenseitig nieder. Die Brücke ist immer wieder erweitert worden. Inzwischen hat sie fünf Stockwerke, aus denen bis zu 300 000 Menschen pro Stunde die drei Teufelssäulen erreichen. Zuletzt starben dabei 2015 mehr als 1000 Menschen.

  • 20. November 1979: Einige Hundert saudi-arabische Oppositionelle verbarrikadieren sich in der Großen Moschee und nehmen Dutzende Pilger als Geiseln. Die gewaltsame Befreiung folgt zwei Wochen später. 153 Tote.
  • 31. Juli 1987: Saudische Ordnungskräfte gehen gegen eine unerlaubte Demonstration iranischer Pilger vor. 402 Tote.
  • 2. Juli 1990: In einem Fußgängertunnel, der von Mina nach Mekka führt, fällt eine Belüftungsanlage aus, es kommt zu Panik. 1426 Tote.
  • 24. Mai 1994: Massenpanik während der Teufelssteinigung in Mina. 270 Tote.
  • 15. April 1997: Ein defekter Gaskocher verursacht einen Brand in der Zeltstadt der Pilger in Mina. 343 Tote.
  • 9. April 1998: Massenpanik während der Teufelssteinigung in Mina. 118 Tote.
  • 1. Februar 2004: Massenpanik während der Teufelssteinigung in Mina. 251 Tote.
  • 12. Januar 2006: Massenpanik während der Teufelssteinigung in Mina. 364 Tote.
  • 11. September 2015: Wenige Tage vor Beginn des Hadsch stürzt ein Baukran auf einen Innenhof der Großen Moschee. 107 Tote.
  • 24. September 2015: Massenpanik am Rande der symbolischen Teufelssteinigung in Mina. Mehr als 700 Tote.

Der Frage, wie sich ein sicherer Hadsch organisieren lässt, haben sich mehrere internationale Forscherteams angenommen. Grundsätzlich haben Wissenschaftler eine Dichte von etwa sechs Menschen pro Quadrameter als kritische Schwelle ausgemacht. Ab diesem Wert können sich einzelne Personen nicht mehr frei bewegen, sondern werden von der Masse mitgeschoben. Fällt bei dieser Menschendichte jemand um, können schnell viele weitere mitgerissen werden.

Sozialpsychologen wie John Drury von der University of Sussex haben allerdings herausgefunden, dass es einen Unterschied macht, warum eine Menschenmasse entsteht. Drury unterscheidet zwischen rein physikalischen Menschenmassen - also Personen, die nichts miteinander zu tun haben und nur zufällig am selben Ort sind, etwa an U-Bahnhöfen - und pyschologischen Massen, die sich alle zum gleichen Zweck versammeln - etwa bei einem Fußballspiel, einem Rockkonzert oder eben einer Wallfahrt wie in Mekka. In diesen psychologischen Mengen fühlten sich die Menschen bei gleicher Menschendichte sicherer als in zufällig zusammentreffenden Ansammlungen. "Eine Identifikation mit der Menge verstärkt die Erwartung, dass einem von anderen geholfen würde", erklären Drury und Hani Alnabulsi von der Umm-al-Qura-Universität in Mekka dieses Phänomen in einem Artikel für die Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences.

Als besonderes Sicherheitsrisiko haben Forscher ausgemacht, wenn sich Menschenströme aus verschiedenen Richtungen begegnen oder überkreuzen. Die umgebaute Jamarat-Brücke ist deshalb so konstruiert, dass verschiedene Gruppen über unterschiedliche Stege kreuzungsfrei aneinander vorbeigeführt werden. Überwachungskameras an der Brücke sind so ausgestattet, dass sie die Anzahl der vorbeiströmenden Menschen erfassen können.

Auf dem Zeltplatz sind die Pilger in Gruppen von je etwa 250 Personen eingeteilt. Wissenschaftler um Knut Haase von der Uni Hamburg haben ein mathematisches Modell entwickelt, das jeder Gruppe einen Zeitslot zum Besuchen der Jamarat-Brücke zuteilt. So soll vermieden werden, dass sich zu viele Menschen zur gleichen Zeit zur Brücke bewegen.

Seit vergangenem Jahr erhalten die Pilger während des Hadsch außerdem Armbänder mit GPS-Sendern, über die sie gefunden und die Menschenströme überwacht und eingeschätzt werden können. Für Notfälle sind auf den GPS-Sendern außerdem persönliche und medizinische Informationen gespeichert.

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SZ/AFP/dura/stein
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