Inzest:Eine verbotene Liebe in Sachsen

Das Beispiel einer jungen Familie in der Nähe von Leipzig wirft die Frage auf, warum Inzest in Deutschland noch immer eine Straftat ist.

Von Christina Berndt

Großdalzig, im Oktober - Als sich im Ring des Nibelungen die Zwillinge Siegmund und Sieglinde trafen und begehrten, entstand aus ihrer Liebe der schöne Siegfried. Siegfried, der Drachentöter.

Als sich in Großdalzig die Geschwister Patrick Stübing und Susan Karolewski trafen und begehrten, entstanden aus ihrer Liebe Erik, Sahra und Nancy. Eher keine Drachentöter.

Die Geschwister wussten erst gar nicht so richtig, wie ihnen geschah, sie wissen es bis heute nicht. Drei Kinder haben sie miteinander gezeugt. Im Inzest. In Blutschande.

Ein Paar, das keines sein darf

Was diese Wörter bedeuten, davon haben Patrick Stübing und Susan Karolewski inzwischen eine Ahnung bekommen. Was falsch an ihrer Liebe sein soll, davon nicht. Wie ein altes Ehepaar mit zu jungen Gesichtern sitzen sie auf dem dunkelbraunen Sofa ihres Wohnzimmers. Ein Paar, das keines sein darf. Eine verbotene Liebe in Deutschland.

Ihr Sohn Erik ist noch keine drei Jahre alt, er macht nicht den Eindruck, als würde er eines Tages wie Siegfried über das hinauswachsen, wozu ein Mensch normalerweise geboren ist. Erik liegt eher unter dem Durchschnitt.

Er sei geistig behindert, sagen die Leute vom Jugendamt. Dafür werden seine Eltern nun bestraft.

Die Fehler der Gene

Inzest ist eines der letzten großen Tabus. Ehen von Geschwistern sind fast überall auf der Welt verboten. Nur Mord und Kannibalismus sind noch stärker tabuisiert als der Geschlechtsverkehr zwischen engen Angehörigen.

Mit zwei Jahren Haft droht das deutsche Strafgesetzbuch. Kaum noch jemanden kümmert es, wenn Männer andere Männer lieben, Frauen andere Frauen, wenn Menschen sexuelle Vorlieben aller Arten miteinander ausprobieren. Vorausgesetzt, dass beide es wollen.

Doch die einvernehmliche Liebe zwischen engen Blutsverwandten ist eine Straftat. Begründung: Der Nachwuchs könnte nicht gesund sein. Doch müsste man mit derselben Begründung nicht auch Menschen mit Erbkrankheiten ihre Liebe untersagen?

Tatsächlich sind die Kinder von Patrick Stübing und Susan Karolewski beeinträchtigt. Erik kann mit seinen knapp drei Jahren noch nicht richtig laufen, beim Sprechen hapert es ebenfalls.

Auch seine kleine Schwester, die 18 Monate alte Sahra, ist dem Jugendamt zufolge geistig zurückgeblieben. Nur über Nancy, die Jüngste, kann man noch nichts sagen. Sie ist erst fünf Monate alt.

Der Nachwuchs aus Inzest-Beziehungen entspricht oft nicht der Norm. Zu ähnlich sind die Gene der Eltern. All die kleinen Fehler, die jeder Mensch in seinem Erbgut trägt, fallen nicht auf, wenn man sich in der weiten Welt nach einem Partner umschaut.

Etwa fünf oder sechs defekte Gene hat jeder Mensch. Aber er hat auch von jeder Erbanlage zwei Versionen. So ist meist noch ein gesundes Gen da, das den Fehler in seinem unzulänglichen Double wettmacht.

Eine verbotene Liebe in Sachsen

Geschwister aber sind zur Hälfte genetisch identisch. Wenn sie miteinander Kinder bekommen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass beide dasselbe fehlerhafte Gen weitergeben. Es gibt dann keine gesunde Erbanlage mehr, die den eigentlich zurücktretenden, "rezessiven" Makel kaschieren könnte.

"Das Risiko für seltene Krankheiten kann bei Kindern von Geschwistern leicht hundert- bis tausendfach erhöht sein", sagt Arne Pfeufer, Humangenetiker an der Technischen Universität München.

Wie groß dieses Risiko im Einzelfall ist, lässt sich nicht sagen, weil niemand all die Macken im weitläufigen, menschlichen Erbgut kennt.

Das Ergebnis aber ist deutlich: "Jedes zweite bis dritte Kind aus einer Beziehung zwischen Bruder und Schwester ist nicht normal", sagt der emeritierte Genetikprofessor Arno Motulsky von der University of Washington in Seattle. "Ungefähr jedes siebte hat einen Geburtsdefekt, jedes vierte ist geistig behindert und jedes achte hat eine bekannte rezessive Krankheit."

Die Kinder sind nicht mehr da. Patrick Stübing und Susan Karolewski sind jetzt allein in der kleinen Dachwohnung mit den bunt angestrichenen Wänden im Dörfchen Großdalzig, südlich von Leipzig. Sie mussten die Kinder weggeben. Dafür sitzen Stofftiere auf der Rückenlehne der Couch, über den Armlehnen liegen kleine bunte Deckchen.

Als ginge sie das alles nichts an

Die Mutter ist 20 Jahre alt und sagt nicht viel. Sie hat sich zurückgezogen in ihre Welt der Stofftiere und Deckchen, als ginge sie das alles nichts an. Der Rechtsanwalt ist zu Besuch, wie so häufig in letzter Zeit. Susan Karolewski spielt mit ihrem Hund. Dann sagt die junge Frau doch etwas und lächelt: "Wenn er die Decken unordentlich gemacht hat, zieht er sie wieder gerade." Den Hund darf die dreifache Mutter behalten. Ihre Kinder leben alle in Pflegefamilien.

Doch die Eltern wollen ihre Kinder wieder haben. "Wir wollen erstmal den Erik holen", sagt Patrick Stübing. "Dann können wir uns wieder an ihn gewöhnen und er sich an uns. Und nach einem halben Jahr holen wir die Sahra." Das ist der Plan. Die Realität sieht anders aus.

Im nächsten Jahr wird die Familie erst einmal noch weiter aufgelöst werden. Patrick Stübing muss für zehn Monate ins Gefängnis. Weil er seiner Schwester zwei Kinder gemacht hat. Für das dritte, für Nancy, steht die Strafe noch aus. Sie wird noch um einiges härter ausfallen.

Wiederholungstäter

Für das Gericht ist Patrick Stübing ein Wiederholungstäter: DNS-Tests haben seine Vaterschaft bewiesen. Wegen der jüngsten Tochter droht auch Susan Karolewski eine Strafe. Bei Nancys Zeugung war sie volljährig.

Wenn die Kinder nicht geboren wären, wäre wohl kein Richter je auf die Liebe zwischen Bruder und Schwester aufmerksam geworden. Schließlich ist kein Missbrauch im Spiel.

Patrick Stübing ist zwar mit seinen 27 Jahren der dominante in dieser Beziehung. Aber das, was passiert ist, wollten sie beide. "Die sexuellen Beziehungen zwischen dem Angeklagten und seiner Schwester wurden einvernehmlich zwischen beiden gepflegt", erkennt auch das Gericht an.

Eine verbotene Liebe in Sachsen

Susan Karolewski drückt es anders aus: "Wir haben uns lieb." Sie hat Angst davor, dass Patrick demnächst ins Gefängnis muss.

"Wir wussten, dass das irgendwie verboten ist, aber wir wussten nichts von so hohen Strafen", sagt Patrick Stübing. "Und eigentlich wollten wir auch gar keine Kinder." Das sei "irgendwie passiert". Der Angeklagte habe mit seiner Schwester "mehrfach ohne Verantwortungsbewusstsein den Beischlaf vollzogen", warf das Gericht ihm vor.

Die Staatsanwälte wollten alles genau wissen: "Ab Januar 2001 bis August 2001 kam es in mindestens 16Fällen zur Vollziehung des Geschlechtsverkehrs", hieß es im Urteil. "Nur am Anfang achtete der Angeklagte auf die Verhütung mittels Kondomen. Als die Kondome ausgegangen waren, vollzog er mit seiner Schwester stets den ungeschützten Geschlechtsverkehr."

Dass Kinder gezeugt wurden, erschwert in den Augen des Gerichts das Vergehen des Inzests. Richter Bernd Jähkel erklärt, weshalb er das mögliche Strafmaß nicht ausgeschöpft hat: "Für die Höchststrafe von zwei Jahren müsste der Fall schwerwiegender sein, beispielsweise, wenn die Kinder schwerst behindert wären."

Gefährliche Überbleibsel

Patrick Stübing findet seinen Sohn wunderbar. "Sie haben uns gesagt, dass Erik behindert ist, aber ich weiß nicht, ob das stimmt", sagt er. Er sehne sich nach dem Kleinen, den er mit der Schwester ab und zu in Potsdam bei den Pflegeeltern besucht.

Als Erik sechs Monate alt war, stellte die Mutter einen Antrag auf Erziehungshilfe. Ein Sozialarbeiter schlug ihr damals vor, das Kind in eine Pflegefamilie zu geben. Sie stimmte zu.

Die 17-Jährige fühlte sich überfordert. Als ihr die beiden anderen Kinder weggenommen wurden, unternahm sie nichts.

Es ist unwahrscheinlich, dass sie jetzt die Kinder zurückbekommt, denn sie will weiter mit deren leiblichem Vater, ihrem Bruder, zusammenleben. "Wir würden eine strafbare Handlung dulden", sagt das Jugendamt. "Dabei zeigen Patrick und Susan doch, dass sie zusammengehören", sagt Rechtsanwalt Joachim Frömling, der die Geschwister vertritt. "Schon die ganze Zeit stehen sie diese Sache gemeinsam durch."

Der Fall werde wohl nur deshalb so streng behandelt, weil das Thema Inzest so große Aufmerksamkeit auf sich ziehe.

Dabei kann auch bei Nichtverwandten das Risiko für Erbkrankheiten sehr hoch sein. "Wir sind wirklich nicht besonders konsequent darin, wem wir das Heiraten erlauben", sagt Arno Motulsky, der Genetikprofessor aus Seattle. Wenn ein Paar ein Kind mit Mukoviszidose hat, beträgt die Gefahr, dass sein zweites Kind ebenfalls an jener schweren Krankheit leidet, bei der die Lunge verschleimt, immerhin 25 Prozent.

Und ein Mensch mit der Huntington-Krankheit, dem gefürchteten Veitstanz, gibt diese mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit an seine Kinder weiter. "Niemand würde auf die Idee kommen, solchen Leuten zu verbieten, dass sie sich fortpflanzen", sagt auch Claus Bartram, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik. "Diese Zeiten sind zum Glück vorbei."

Vielleicht aber noch nicht wirklich. Der deutschstämmige Motulsky, der als 16-Jähriger mit seiner Familie vor den Nazis fliehen musste, sieht im Inzest-Tabu ein Überbleibsel der Eugenik-Bewegung.

Auch vor und nach den Nationalsozialisten wollten Regierungen die menschliche Rasse verbessern, indem sie entschieden, wer sich fortpflanzen durfte und wer nicht. So gab es in Schweden noch bis 1976 und in der Schweiz bis in die Achtzigerjahre Zwangssterilisationen von geistig Behinderten.

Dass sich das Inzest-Verbot als Teil dieses Gedankenguts bis heute gehalten hat, liege auch an den starken Emotionen, die das Thema auslöse, meint Motulsky. Schließlich könne sich kaum ein Mensch vorstellen, mit seinen nächsten Verwandten im Bett zu landen. Und das ist vermutlich nicht nur ein kulturelles Tabu.

Den Menschen im Blut

Anthropologen sind sich einig, dass die Abneigung gegen Sex in der Familie den Menschen im Blut liegt. Forschungen bestätigen den finnischen Anthropologen Edward Westermarck. Der hatte schon Ende des 19.Jahrhunderts postuliert, "dass ein angeborener Widerwille gegen den geschlechtlichen Verkehr zwischen Personen existiert, die von früher Jugend auf eng beisammen leben".

Nicht etwa die Blutsverwandtschaft töte jedes sexuelle Begehren ab, so Westermarck, sondern die enge Vertrautheit.

Das mag die Anziehungskraft zwischen Patrick Stübing und Susan Karolewski erklären. Denn als Kinder haben sich die beiden nicht gekannt. Patrick war vier, als ihn die Mutter zur Adoption freigab.

Da war Susan noch nicht geboren. 19 Jahre später hat er mit der Suche nach seiner leiblichen Mutter begonnen. An einem Tag im Mai 2000 rief sie dann an: ",Hier ist deine Mutti aus Leipzig', hat sie gesagt."

Patrick sieht glücklich aus, als er das erzählt. "Wir haben stundenlang gequatscht."

Vertrautheit als Liebestöter

Am 20.Mai hat er seine Mutter dann wiedergesehen, das weiß er noch genau, und dabei hat er auch seine kleine Schwester kennen gelernt. Sechzehn war sie damals. "Bis dahin hab ich ja gar nicht gewusst, dass ich 'ne Schwester hab", sagt Patrick.

Kurz darauf ist er zu den beiden Frauen in die Zweizimmerwohnung nach Leipzig gezogen. Dann starb ganz plötzlich die Mutter, kurz vor Weihnachten. Da wurde mehr aus der Zuneigung der Geschwister.

"Wenn wir schon immer eine normale Familie gewesen wären, wär' das wahrscheinlich alles nicht passiert", sagt Patrick Stübing. Und die moderne Wissenschaft gibt ihm und dem Anthropologen Westermarck Recht.

Ein Beleg für dessen These sind zum Beispiel die arrangierten Simpua-Ehen in Taiwan. Dort wachsen Jungen und Mädchen, die einander versprochen wurden, von frühester Kindheit an gemeinsam im Haus des Bräutigams auf.

Solche Ehen sind weniger kinderreich als andere und werden oft geschieden, wie der Anthropologe Arthur Wolf von der Stanford-Universität herausfand.

Zieht das Mädchen aber erst später, im Alter von sechs oder sieben Jahren, zu seinem Verlobten, entwickelt sich die sexuelle Abneigung nicht mehr.

Als Liebestöter haben sich auch die israelischen Kibbuzim erwiesen. Kinder, die dort von Geburt an Tag und Nacht zusammenleben, heiraten einander nie. Fast 3000 Kibbuz-Ehen untersuchte der israelische Anthropologe Joseph Shepher und stellte fest: Nur 13 von ihnen waren zwischen Kindern aus derselben Hortgruppe zustande gekommen. Und diese 13Paare hatten nicht ihre gesamte Kindheit im Kibbuz verbracht.

Ein Massenphänomen werden Inzest-Liebschaften also kaum werden. Den Geschwistern aus Sachsen bleibt indes nur die Kapitulation. Patrick Stübing denkt über eine Sterilisation nach.

Es ist keine Zwangssterilisation wie in Schweden. Aber ganz freiwillig ist sie auch nicht. "Dadurch erhöht sich zumindest die Chance, dass sie die Kinder zurückerhalten", sagt Rechtsanwalt Joachim Frömling. "Aber ein einfacher Schritt ist das für so einen jungen Mann natürlich nicht."

Susan Karolewski sagt nichts. Ihr Bruder nickt stumm. "In letzter Zeit", sagt er, "fühlen wir uns wieder eher als Geschwister und nicht als Paar." Und nach einer Pause: "Ein bisschen liegt das schon am Druck. Aber da müssen wir jetzt mit leben."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: