Jochen Gladow, Jahrgang 1953, ist Diplom-Sozialpädagoge und Gründungsmitglied der Beratungsstelle "Stop-Stalking" in Berlin.
Herr Gladow, in Rheinland-Pfalz hat ein 15-Jähriger seine Ex-Freundin getötet. Die Polizei wusste, dass das Mädchen bedroht wird. Wie kann es trotzdem zu so einer Tat kommen?
Jochen Gladow: Ganz grundsätzlich können wir sagen, dass es Zeit braucht, eine Stalking-Situation vernünftig einzuschätzen. Wenn eine Anzeige aufgenommen wird, kommen in der Regel nur die Fakten zur Sprache: Wie lang waren die beiden zusammen, auf welche Weise stellte der Stalker seinem Opfer nach, was drohte er an, welche Stalkingmethoden kommen zur Anwendung? Aus einem eingehenden Gespräch mit dem Opfer kann psychologisch geschultes Personal mehr herauslesen. Der konkrete Fall ist uns weitgehend unbekannt, deshalb können und wollen wir die Arbeit der beteiligten Beamten nicht bewerten.
Was genau lesen Sie aus Gesprächen mit Betroffenen heraus?
Wenn sich Stalker und Stalkingopfer einmal nahestanden, kann das Opfer wichtige Einblicke in die Beziehungsdynamik liefern: Wie verhielten sich die beiden als Paar, wie gingen sie mit Streit um, gab es bereits Vorfälle, in denen Gewalt eine Rolle spielte? Auch im Hinblick auf den potenziellen Täter können wir ein Profil entwickeln: Hat er vielleicht eine impulsive Störung? Aus vielen kleinen Mosaiksteinen lässt sich dann in der Regel eine vorsichtige Einschätzung ableiten, ob eine akute Gefährdungslage vorliegt.
Im konkreten Fall hat die Polizei nach der Anzeige der Eltern eine Gefährderansprache durchgeführt. Wie darf man sich so etwas vorstellen?
Die Polizisten suchen den Beschuldigten auf und sagen ihm, was ihm vorgeworfen wird und was ihm juristisch droht, sollte er sein Verhalten nicht ändern. Mindestens genauso wichtig ist, dass sich die Beamten bei einem solchen Besuch einen persönlichen Eindruck vom Gefährder verschaffen.
Der Jugendliche wurde nach der Gefährderansprache mehrmals schriftlich auf die Polizeidienststelle in Neustadt an der Weinstraße geladen, ist dort aber nicht erschienen. Am Morgen des 27. Dezember, wenige Stunden vor der Tat, suchten ihn die Beamten dann persönlich auf, um ihm die Vorladung zu überreichen.
Die Polizeidienststellen haben nicht lange abgewartet, sondern schnell und angemessen gehandelt. Dass dennoch etwas passiert ist, zeigt die Schwierigkeiten, mit denen die Behörden in solchen Fällen zu kämpfen haben. Gegen den potenziellen Täter liegt ja noch nicht wirklich etwas vor. Aber wer den Täter nicht festsetzen kann, muss das Opfer schützen. Deshalb ist eine spezialisierte Stalkingberatung durch die Polizei oder ein Verweis an Opferschutzeinrichtungen oder den Weißen Ring notwendig. Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Eine Anzeige allein schützt nicht vor Stalking. Wir würden jedem Betroffenen empfehlen, sich zusätzlich an eine Opferschutzeinrichtung oder eine Beratungsstelle zu Häuslicher Gewalt und Stalking zu wenden.
Was raten Sie einem Stalkingopfer, das sich an sie wendet?
Es liegt ja nicht immer eine akute Bedrohung vor. Manchmal können wir die Betroffenen auch beruhigen. Wenn wir den Verdacht haben, dass Gefahr im Verzug ist, kooperieren wir in Berlin etwa mit der LKA-Abteilung für Individualgefährdung und empfehlen in manchen Fällen, sich vorübergehend einem möglichen Zugriff des Gefährders zu entziehen. Das bedeutet nicht, dass die betreffende Person umziehen muss, aber sie sollte zumindest vorübergehend nicht an der üblichen Adresse zu erreichen sein. Außerdem sollten Orte gemieden werden, die früher gemeinsam aufgesucht wurden.
Der mutmaßliche Täter und das Opfer in Kandel sollen sich vor der Tat zufällig auf der Straße getroffen haben.
Egal wie gut die Präventionsarbeit ist - es passieren immer wieder Dinge, die niemand vorhersehen kann. Furchtbar, wenn das Aufeinandertreffen dann tragisch endet.