Interview:",Neu' gehört zu den Risiken und Nebenwirkungen"

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Oft zeigen sich unangenehme Effekte erst nach der Zulassung - der Pharmakologe Heiner Berthold über den sicheren Umgang mit Medikamenten.

Interview: Christina Berndt

Erst nach Jahren zeigen sich alle Nachteile: Zwar werden Medikamente vor ihrer Zulassung in klinischen Studien auf unerwünschte Effekte abgeklopft.

Seltene Nebenwirkungen aber lassen sich - wie im Fall des Rheumamittels Vioxx - erst erkennen, wenn viele Patienten die Pillen geschluckt haben.

Der Geschäftsführer der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Heiner Berthold, sprach mit der SZ über die besonderen Risiken neuer Medikamente.

SZ: Müsste man das Wort "neu" nicht im Beipackzettel unter Risiken und Nebenwirkungen aufführen?

Berthold: Da ist durchaus was dran. Neue Arzneimittel haben immer ein verhältnismäßig schlechtes Sicherheitsprofil. Deshalb tragen die Packungen in Großbritannien als Warnzeichen ein schwarzes Dreieck. Das heißt, dass die Arznei noch unter genauerer Beobachtung steht. Auch in Deutschland wird in den ersten fünf Jahren besonderes Augenmerk auf neue Wirkstoffe gelegt. In dieser Zeit muss der Hersteller häufiger Sicherheitsberichte abgeben, und Fachkreise sollen das Mittel intensiver beobachten. Aber der Patient bleibt außen vor. Dabei ist er ja meist der erste, der etwas merkt.

SZ: Würden Sie denn als Patient grundsätzlich das alte Medikament nehmen, wenn es eins gibt?

Berthold: Nicht grundsätzlich. Es gibt zweifelsohne neue Arzneimittel, die besser verträglich sind als ihre Vorgänger. Dafür muss man aber neben dem Mangel an Erfahrungen mit den Risiken auch einen höheren Preis in Kauf nehmen.

SZ: Im Fall von Vioxx erwies sich vor allem die Langzeitanwendung als problematisch; sie war kaum getestet worden. Wäre es denn eine gute Idee, neue Medikamente regelmäßig zu wechseln? Berthold: Das ist theoretisch ein guter Gedanke. Aber es gibt bisher keine Datenbasis dafür, dass ein Wechsel zwischen den Präparaten die Sicherheit tatsächlich erhöht.

SZ: Nach wie vielen Jahren ist ein Medikament aus dem Gröbsten raus?

Berthold: Das ist schwer zu sagen. Je seltener eine unerwünschte Wirkung ist und je weniger Patienten das Mittel nehmen, umso später wird man sie sehen. Eben deshalb können seltene Nebenwirkungen bei der Zulassung einfach nicht bekannt sein. Dafür haben wir in Praxen und Kliniken das Spontanerfassungssystem von unerwünschten Wirkungen.

SZ: Aber gerade mal vier Prozent aller Ärzte haben jemals eine Nebenwirkung gemeldet.

Berthold: Das ist schon extrem wenig. Allerdings wollen wir auch nicht, dass alles gemeldet wird. Die Stärke des Spontanerfassungssystems liegt in der Qualität der Meldungen, nicht in der Quantität. Wir müssen die Ärzte stärker davon überzeugen, dass unser System ihre Mithilfe wirklich braucht.

SZ: Wie wäre es stattdessen mit größeren und längeren Studien vor der Zulassung?

Berthold: Man kann den Probelauf nicht endlos ausdehnen. Dann hätten die Studien Dimensionen, die nicht zu schaffen sind.

SZ: Also muss man in der Bevölkerung weitertesten?

Berthold: Genau. Irgendwann muss man die Zulassung trotz verbleibender Sicherheitslücken erteilen. Sonst verzögert sich der Entwicklungsprozess so, dass es gar nicht mehr zu neuen Produkten kommt.

SZ: Aber auch ein Warnhinweis auf den Packungen würde den Anreiz für Innovationen wohl mindern.

Berthold: Oder es gäbe endlich einen Anreiz für wirkliche Innovationen. Die meisten neuen Arzneimittel sind ja "Ich auch"-Produkte, Pseudoinnovationen also. Pro Jahr kommen nur zehn bis 15 echte Neuerungen auf den deutschen Markt.

SZ: Gibt es denn keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, die bei solchen brandneuen Präparaten im Sinne der Patienten wären?

Berthold: Doch, gewiss. Wir würden gerne die Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen neu regeln. In Deutschland ist jedes Arzneimittel sofort voll erstattungsfähig. Das ist in fast keinem anderen Land so. Damit die Kassen eines Tages ein Produkt bezahlen, sollte man den Hersteller dazu verpflichten, in der ersten Zeit nach der Einführung weitere Studiendaten abzuliefern.

SZ: Wären nicht eher firmenunabhängige Studien nötig?

Berthold: Wirklich unabhängige Studien wären natürlich besser. Zusätzlich brauchen wir aber dringend politische Vorgaben, die die Publikation von allen Daten obligatorisch machen. Der bisherige Zustand ist grotesk. Es werden unendlich viele Ergebnisse vergraben, weil sie den Firmen nicht gefallen.

SZ:In England haben sich die Patienten trotz des schwarzen Dreiecks direkt nach der Zulassung auf Vioxx gestürzt. Wie kam es dazu?

Berthold: Das liegt auch an der Werbung. Je intensiver ein Produkt beworben wird, desto häufiger wird es verschrieben. Der Zusammenhang ist eindeutig belegbar.

SZ: Müssten Behörden denn nicht besser darauf achten, was die Firmen in ihrer Werbung behaupten? Der Vioxx-Hersteller Merck hat immer die Magenverträglichkeit seines Präparats überbetont, aber das Herz-Kreislauf-Risiko heruntergeredet. In den USA hat er dafür von der FDA eine Rüge bekommen.

Berthold:Bei uns müssten die Ärzte besser aufpassen. In der Werbung, die sie erhalten, stimmen viele Aussagen einfach nicht. Eine bessere Kontrolle würde sicherlich zu einem rationaleren Einsatz neuer Arzneien führen.

SZ: Dass Vioxx nicht für Patienten mit Herzkreislaufproblemen gedacht ist, stand aber schon im Beipackzettel. Auch beim Cholesterinsenker Lipobay, der vor drei Jahren vom Markt verschwand, waren die schweren Nebenwirkungen meist Folge von Verschreibungsfehlern. Wieso missachten Ärzte die Empfehlungen?

Berthold: Die unkritische Verordnungspraxis beruht meist auf der schlechten Ausbildung der Ärzte.

SZ: Die Fortbildung wird in großem Umfang von Pharmafirmen durchgeführt. Liegt es daran?

Berthold: Seit Januar müssen Kassenärzte im Fünf-Jahres-Turnus immerhin eine fachliche Weiterbildung nachweisen, die frei von wirtschaftlichen Interessen ist. Das ist zumindest ein Fortschritt. Aber für das mangelhafte Wissen der Ärzte in der Arzneimitteltherapie tragen auch die Universitäten die Verantwortung. Die Ausbildung in diesem Bereich ist absolut unzureichend.

SZ: Was fehlt im Studium? Beipackzettel sollten Ärzte auch so lesen können...

Berthold: Es fehlt das kritische Nachdenken darüber, welche Therapie wirklich indiziert ist. Dazu muss der Arzt zunächst beurteilen können, welche Wirkungen eines Medikaments wirklich gesichert sind. Wenn er dann eine Reihe von Arzneien zur Auswahl hat, muss er abwägen, bei welcher die persönliche Nutzen-Risiko-Bilanz des Patienten die beste ist. Das hat auch mit ärztlicher Erfahrung zu tun. Vioxx zum Beispiel war ja kein schlechtes Medikament an sich. Es war gut für Schmerzpatienten mit Magenproblemen, aber eben nicht für Herzkranke.

© SZ vom 19.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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