Interview am Morgen:"Eine Fixierung ist immer das Scheitern einer Behandlung"

Pflege - Fixation

Wann ist eine Fixierung rechtens? Darüber will nun das Verfassungsgericht verhandeln.

(Foto: Hans Wiedl/dpa)

Dürfen Ärzte psychisch kranke Menschen ohne richterlichen Beschluss fesseln? Darüber verhandelt das Verfassungsgericht. Im "Interview am Morgen" erklärt ein Psychiater, warum er Zwangsmaßnahmen nur in einer Situation für sinnvoll hält.

Von Anna Fischhaber

In Karlsruhe wehren sich zwei Patienten gegen ihre Fixierung. Die Kläger aus Bayern und Baden-Württemberg machen geltend, vor dieser Maßnahme hätte die Zustimmung eines Richters eingeholt werden müssen. Martin Zinkler ist Psychiater und Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Klinikum Heidenheim. Bei der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts am Dienstag und Mittwoch wird er als Sachverständiger auftreten.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

SZ: Herr Zinkler, wie läuft so eine Fixierung ab?

Martin Zinkler: Üblich ist eine Fünfpunktfixierung: Der Patient wird mit Gurten aus starkem Baumwollstoff an beiden Armen und Beinen und am Bauch am Bett festgebunden. Die Fixierung selbst ist nicht schmerzhaft, aber das überwältigt werden natürlich schon. Während sie fixiert sind, werden Patienten in unserer Klinik eins zu eins betreut. Jemand bespricht mit ihnen, wie sie wieder aus dieser Situation kommen, sobald ein wenig Ruhe eingekehrt ist. Deshalb werden die meisten Fixierungen nach ein paar Stunden wieder beendet. Der Patient aus Baden-Württemberg, dessen Fall nun verhandelt wird, wurde über fünf Tage fixiert - warum, weiß ich nicht. Aber diese lange Dauer verwundert natürlich schon.

Wie oft werden in Deutschland überhaupt Menschen fixiert?

Viele Kliniken erheben diese Zahlen gar nicht. Das ist eigentlich schon der erste Skandal und ein Grund, warum das Verfassungsgericht jetzt da drauf schaut. In Baden-Württemberg gibt es inzwischen ein landesweites Register für Zwangsmaßnahmen. 2015 gab es bei 110 000 stationären Aufnahmen 30 389 einzelne Maßnahmen. 6,7 Prozent der Patienten waren betroffen, wobei manche natürlich öfter als einmal fixiert wurden. Wenn man das auf Deutschland hochrechnet, müssten das bei 800 000 stationären Aufnahmen etwa 221 000 Maßnahmen im Jahr sein.

In anderen europäischen Ländern wie Großbritannien oder den Niederlanden wird kaum fixiert. Wie kann das sein?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einen Patienten, der außer Rand und Band ist, ruhigzustellen: Man kann ihn im Bett fixieren, oder man sperrt ihn in ein Zimmer ein, Isolierung nennt man das. In Holland wird eher isoliert, in Deutschland eher fixiert, die Zahlen sind allerdings ähnlich hoch. In Großbritannien gibt es stattdessen Medikamente. Ich habe dort zehn Jahre lang gearbeitet. In den Situationen, in denen man in Deutschland Patienten festbindet, werden dort Menschen von Mitarbeitern überwältigt und bekommen eine Spritze gesetzt - ob sie wollen oder nicht. Was schlimmer ist, darüber streiten Experten. Interessanterweise wurde der eine Patient, dessen Fall jetzt in Karlsruhe verhandelt wird, isoliert, fixiert und hat dann eine Zwangsmedikation bekommen. Ich bin ja auch Leiter einer Psychiatrie, bei mir gibt es diese Zwangsmaßnahmen auch. Aber eine, nicht drei gleichzeitig.

In welchen Fällen ist eine Zwangsmaßnahme sinnvoll?

Eigentlich nur in einer Situation: Wenn wir oder andere Patienten angegriffen werden. Und ich meine nicht, dass mal ein Gegenstand fliegt, sondern dass wir wirklich gewaltsam angegriffen werden. Dann wehren wir das ab, dann versuchen wir, den Patienten zu beruhigen und zu bändigen, und wenn das nicht gelingt, dann binden wir ihn für ein paar Stunden am Bett fest. Ich sehe das als Notwehr und so vermittle ich das meinen Mitarbeitern auch: Macht nichts, was ihr außerhalb der Psychiatrie nicht auch machen würdet. Eine Fixierung ist immer das Scheitern einer Behandlung. Deshalb wird in meiner Klinik eine solche Zwangsmaßnahme hinterher dokumentiert und nachbesprochen. Wir bieten den Patienten an, dass wir in einer Behandlungsvereinbarung schriftlich festlegen, welche Maßnahmen wir ergreifen, wenn wir wieder in so eine Situation kommen. Wie wir ihn versuchen zu beruhigen, bevor wir ihn fixieren. Aber das machen nur wenige Kliniken.

Haben Sie auch Erfahrungen mit sinnlosen Fixierungen gemacht?

Als ich angefangen habe, wurden Menschen nach Suizidversuchen festgebunden. Das würde ich nie mehr machen. Eine Selbstgefährdung ist nie ein Grund für eine Fixierung, finde ich. Mit solchen Menschen muss man sprechen, die darf man nicht alleine lassen. Aber wieso sollte man sie festbinden?

Psychiatrie ohne Gewalt und Zwang. Ist das auch möglich?

Zumindest kann man sich dem annähern. Es gibt eine Klinik in Deutschland, die das besonders gut kann, sie ist in Herne. Seit 20 Jahren liegt die Rate der Zwangsmaßnahmen dort unter einem Prozent. Aber auch bei uns sind diese Zahlen niedriger als in anderen Kliniken: 2015 wurden im Durchschnitt in Baden-Württemberg 6,7 Prozent der Patienten fixiert, bei uns waren es nur 4,8 Prozent, 2016 nur noch 2,7 Prozent. Ich glaube, wenn ich 15 Prozent mehr Mitarbeiter hätte, bräuchte ich gar keine Fixierungen mehr.

Also alles nur eine Frage des Personals?

Nein. Die Unterschiede im Personal sind längst nicht so groß wie die in der Anwendung von Zwangsmaßnahmen. Wir beschäftigen uns ja schon eine ganze Weile mit der Frage, wie wir Fixierungen verhindern können, und ich denke, es gibt da eine Reihe von Möglichkeiten. Zunächst müssen Mitarbeiter besser ausgebildet werden, damit sie wissen, wie man deeskalieren kann. Die Klinik muss offen zu sich selbst sein, Zwangsmaßnahmen erfassen, Nachbesprechungen anbieten. Komplizierter ist, wie man architektonisch und organisatorisch Psychiatrien so verändern kann, dass sie weniger abschreckend wirken. Sonst wollen die Menschen vor allem erst einmal eins: wieder raus.

Was wünschen Sie sich vom Bundesverfassungsgericht?

Fixierungen finden bislang weitgehend außerhalb jeder richterlichen Kontrolle statt. Ich will, dass über eine Fixierung - wie auch über eine Zwangseinweisung - ein Richter entscheidet. Zumindest wenn sie länger als vier, fünf Stunden dauert. Eine Fixierung ist ein Grundrechtseingriff und in einem Rechtsstaat muss darüber ein Richter entscheiden. Nicht ein Arzt. Alles andere wäre eine Diskriminierung von psychisch kranken Menschen.

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