20 Jahre Massen-Gentest:"DNA steht nicht für 'Do Not Ask'"

Massengentest in Neubrandenburg

Verdächtiger Speichel: Die DNA-Analyse, die in den neunziger Jahre etabliert wurde, hat die Kriminaltechnik revolutioniert.

(Foto: picture alliance / Bodo Marks/dp)

Molekularbiologe Harald Schneider hat mit seinem Team Hunderte Tötungs- und Sexualdelikte mithilfe von DNA-Spuren aufgeklärt. Er erzählt, welcher Fall ihn besonders bewegt hat und vor welche Probleme die forensische Analyse die Ermittler stellt.

Interview von Oliver Klasen

Etwa 18 000 Männer rief die Polizei in Niedersachsen vor 20 Jahren auf, eine Speichelprobe abzugeben. Die Probe mit der Nummer 3889 ergab am 29. Mai 1998 einen Treffer. Sie stimmte mit den am Tatort sichergestellten Spuren überein. Ronny Rieken, das wusste die Polizei danach, war derjenige, den sie suchten. Der Mörder eines elfjährigen Mädchens. Er ist der erste Täter, der mittels eines Massengentests - Fachleute sagen: DNA-Reihenuntersuchung - ermittelt und nach deutschem Strafrecht verurteilt wurde. Doch die Technik an sich gab es schon einige Jahre zuvor. Harald Schneider hat sie etabliert. 1990 kam der Molekularbiologe zum Landeskriminalamt in Wiesbaden und baute eine Abteilung für DNA-Analytik auf. Er war an zahlreichen spektakulären Fällen beteiligt, zumeist Tötungs- und Sexualdelikten. Bereits 1994, als das Verfahren in Deutschland noch kaum etabliert war, konzipierte er eine DNA-Reihenuntersuchung. Überführt wurde damals ein in Hessen stationierter US-Soldat, der später von einem Militärgericht wegen Entführung, Vergewaltigung und Mordes an einem zweijährigen Mädchen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Herr Dr. Schneider, was verbinden Sie, so viele Jahre danach, heute mit dem Fall Elora McKemy?

Elora war für mich der prägendste Fall in meiner Karriere. Zum einen, weil ich eine Tochter habe, die damals im selben Alter war wie das getötete Mädchen. Zum anderen, weil es mein erster großer, erfolgreich geklärter Mordfall war. Es haben uns ja damals alle für verrückt erklärt, übrigens auch die Kollegen in Niedersachsen, die einige Jahre später im Fall Ronny Rieken selbst eine DNA-Reihenuntersuchung vornahmen.

Warum gab es so viele Zweifel?

Weil die DNA-Analyse für deutsche Kriminalisten völliges Neuland war. Ein möglicher Täter werde niemals an einer solchen Untersuchung teilnehmen, überhaupt würden sich sehr viele potenziell Verdächtige weigern und es sei extrem schwer, den Täterkreis einzugrenzen. Das waren die Einwände. Heute lässt sich sagen: Nicht nur die DNA-Analyse ist besser geworden, sondern auch die Operative Fallanalyse.

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Die Arbeit derjenigen, die von Laien "Profiler" genannt werden.

Ja. Den Begriff hören Ermittler nicht gerne, weil er zu sehr an die Detektive in Actionserien wie "CSI" erinnert und zu wenig an akribische Polizeiarbeit. Die Operative Fallanalyse hat sich - zeitlich parallel mit der DNA-Analyse - ab Mitte der neunziger Jahre in Deutschland etabliert. Sie hilft, den Kreis derjenigen einzugrenzen, die Sie zur Speichelprobe bitten.

Was ist denn der Unterschied zwischen der DNA-Analyse heute und der DNA-Analyse im Jahr 1998?

Früher brauchte man Sperma, Speichel, Blut, Vaginalflüssigkeit oder Haarspuren - und zwar in einer gewissen Menge und in einer gewissen Qualität. Heute genügen einzelne Hautschuppen. Außerdem können wir besser mit Mischspuren umgehen, etwa, wenn die Ermittler am Tatort Sperma sichern, das mit dem Blut des Opfers vermengt ist und im Labor die beiden DNA-Anteile voneinander getrennt werden müssen. Mit jedem einzelnen Jahr wurde die DNA-Analyse genauer. Immer weniger Material, immer höherer Beweiswert, aber das hat auch einen riesigen Nachteil.

Welchen?

Wenn Sie die Empfindlichkeit immer weiter nach oben drehen, finden Sie an jedem Tatort DNA-Spuren - aber diese Spuren müssen nicht immer etwas mit der Tat zu tun haben.

Ist das der Grund dafür, dass sich die Ermittler damals im Fall Ronny Rieken nicht auf den DNA-Treffer verlassen und zusätzlich ein Geständnis erwirkt haben?

Zunächst einmal gab es 1998 noch keine eindeutige Rechtsgrundlage für die DNA-Reihenuntersuchung. Sie durfte also vor Gericht nicht als alleiniges Beweismittel verwendet werden. Die Beamten haben den Verdächtigen mit dem DNA-Treffer konfrontiert und eine Tatortbegehung gemacht. Unter diesem Druck ist er möglicherweise zusammengebrochen. Gerade bei Sexualstraftätern erleben wir das häufiger.

Ein DNA-Treffer ist also lediglich der Beweis, dass ein Verdächtiger am Tatort war, aber kein Beweis, dass er der Täter ist?

Genau. Streng genommen ist eine DNA-Spur nicht einmal der Beweis, dass ein Täter tatsächlich am Tatort war. Wenn Sie nur eine einzelne Haarspur haben, dann kann diese Haarspur theoretisch auch über eine dritte Person an den Tatort gelangt sein. Wir nennen das Sekundärtransfer.

Ist das oft vorgekommen, bei den Fällen, an denen Sie beteiligt waren?

Nein. Aber die Verteidiger fragen im Laufe des Gerichtsprozess natürlich: "Kann es sein, dass diese Spur zufällig an den Tatort gekommen ist?" Wenn wir mehrere Spuren eines Verdächtigen an einem Tatort gefunden haben, tendiert die Wahrscheinlichkeit dafür gegen null. Aber wenn wir zum Beispiel nur ein einzelnes Haar gefunden haben, dann muss ich sagen: Ja, in diesem Fall ist der DNA-Treffer nur ein Ermittlungshinweis. Ich mache ja viele Fortbildungen mit Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern - und sage da immer: DNA ist nicht die Abkürzung für "Do Not Ask".

Pannen bei der DNA-Analyse

Jede DNA-Spur müssen die Ermittler also kritisch hinterfragen.

Ja. Das ist unter Fachleuten inzwischen Konsens. Und es gilt auch für andere kriminaltechnische Untersuchungsmethoden. Nehmen Sie zum Beispiel Schmauchspuren, also die Anhaftungen an den Händen, wenn sie eine Schusswaffe benutzt haben. Die werden etwa in den USA gar nicht mehr anerkannt, weil dort zu viele Waffen im Umlauf sind.

Es gab ja auch riesige Pannen bei der DNA-Analyse, etwa das "Phantom von Heilbronn". Über Jahre wurde an etlichen Tatorten in Deutschland die DNA einer Frau gefunden und später stellte sich heraus, dass diese DNA nicht zu einer Verbrecherin gehörte, sondern zur Mitarbeiterin einer Verpackungsfirma, die die Wattestäbchen herstellte, mit denen die DNA-Proben genommen werden.

Ja, so unglücklich dieser Vorfall für die Polizei war, er hatte auch einen positiven Effekt. Heute verwenden wir Wattetupfer, die nicht nur absolut DNA-frei sondern auch selbsttrocknend und damit schimmelabweisend sind. Die gab es zwar auch vor zehn oder zwölf Jahren schon, aber sie waren wesentlich teurer als normale Wattestäbchen. Damals konnten wir die Verwaltung nicht überzeugen, dass diese Mehrkosten nötig sind. Das hat sich nach dem "Phantom von Heilbronn" geändert.

In der DNA-Analyse-Datei (DAD) beim Bundeskriminalamt sind inzwischen mehr als 1,2 Millionen DNA-Muster gespeichert. Verstehen Sie die Sorge, dass die Technik missbraucht werden kann?

In Deutschland sehe ich das nicht. Bei uns gelten klare rechtliche Vorgaben. Nur bei Kapitalverbrechen, bei Wiederholungstätern oder wenn davon auszugehen ist, dass ein Täter erneut schwere Straftaten begeht, darf sein Profil in der DAD gespeichert werden. Auch eine Reihenuntersuchung darf ein Soko-Leiter nicht einfach so anordnen. Dafür gelten klar umrissene rechtliche Voraussetzungen. Das Spurenmaterial muss zwingend tatrelevant sein und der Täterkreis muss sich sinnvoll eingrenzen lassen.

Das bayerische Polizeiaufgabengesetz erlaubt künftig eine erweiterte DNA-Analyse. Die Polizei weiß dann zum Beispiel, welches Alter ein Verdächtiger hat und aus welcher Region er kommt.

Die Untersuchung auf biogeografische Merkmale ist aber leider noch ziemlich ungenau. Wir können damit nicht sagen, ob ein Verdächtiger aus Norddeutschland oder Süddeutschland kommt, sondern nur grob die Kontinentalregion eingrenzen. Außerdem gibt es datenschutzrechtliche Bedenken, die man ernsthaft prüfen muss. Wichtiger ist aus meiner Sicht ohnehin die erst jetzt technisch mögliche Altersbestimmung. Sie würde uns sehr helfen. Dann könnten wir die Reihenuntersuchung auf eine viel kleinere Zielgruppe eingrenzen.

Wird es irgendwann nicht mehr möglich sein, ein Verbrechen zu begehen, ohne identifiziert zu werden?

Ich kann mir das noch nicht wirklich vorstellen. Aber in einigen Jahren dürften die Methoden so empfindlich sein, dass man in jedem Falle identifiziert wird. Dann gilt noch mehr als heute: Verbrechen lohnt sich nicht.

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