Internet-Hype um Video:"Zum ersten Mal hörte ich Vögel singen"

Lesezeit: 3 min

39 Jahre lebt Joanne Milne quasi ohne Gehör. Ein Internet-Video zeigt, wie sie mit Hilfe eines Hörimplantats ihre ersten richtigen Töne vernimmt. Der Clip rührt, doch Gehörlosen-Vertreter üben Kritik. Jetzt erzählt Milne ihre Geschichte.

Von Tobias Dorfer

39 Jahre lang vernahm Joanne Milne kein wirkliches Geräusch. Die Frau aus England kam quasi taub zur Welt, sie hat seit Geburt das sogenannte Usher-Syndrom, das ihr seit etwa zehn Jahren auch zunehmend die Sehkraft nimmt. In den vergangenen Tagen wurde sie zu einer Internet-Berühmtheit.

Schuld daran ist ein Video, das ein Freund bei Youtube hochgeladen hat. Es zeigt Joanne Milne beim Arzt, eine Helferin schaltet eine elektronische Hörprothese ein. Die Kamera filmt, wie sie mit knapp 40 Jahren ihre ersten Töne hört. Joanne Milne verliert die Fassung, ist überwältigt und bricht in Tränen aus. Das Video rührt die User in den sozialen Netzwerken und wird zum Youtube-Hit.

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Aber es gibt auch negative Reaktionen. Auf der Website The Wire war ein Beitrag der amerikanischen Bloggerin Lilit Marcus zu lesen. Marcus ist selbst Tochter von gehörlosen Eltern und rief ihre Leser dazu auf, den Film mit Joanne Milne nicht weiter im Internet zu teilen. Der Clip würde ein falsches Bild zeichnen. Schließlich ließe sich diese Methode nicht bei allen gehörlosen Menschen anwenden.

"Was mich an diesen Filmen ärgert, ist, dass der Zuschauer nicht erfährt, wie die Menschen zu ihrer Entscheidung kamen, welche Faktoren sie beeinflussten und ob ihre Krankenversicherung den Eingriff zahlte", schreibt Marcus. In der Realität würde das Einsetzen eines Cochleaimplantats nicht immer so gut funktionieren. Oft sei nach der Operation eine langwierige Therapie notwendig, in einigen Fällen blieben Hörschäden. Viele Betroffene fühlten sich nach einem solchen Eingriff von anderen Gehörlosen nicht mehr akzeptiert oder hätten Probleme mit alten Freunden.

Besonders schlimm für Lilit Marcus: Diese Videos würden anderen Betroffenen suggerieren, sie seien für immer "beschädigt". In einem Artikel des Wiener Standards wird die Vorsitzende des Österreichischen Gehörlosenbundes zitiert, die in der Verbreitung des Films die Gefahr sieht, Cochleaimplantate könnten als Allheilmittel wahrgenommen werden.

Nun äußert sich die Frau, um die es geht, selbst - ausführlich, in einem Gastbeitrag für den britischen Guardian. Darin erzählt Joanne Milne zunächst von ihrer Kindheit und Jugend. "Ich war eine sehr glückliche junge Frau", schreibt die heute 39-Jährige, "und meine Gehörlosigkeit war nur ein Teil meiner Persönlichkeit." Der Daily Mail erzählt sie, dass sie als Kind Hörhilfen hatte. Damit konnte sie aber Gespräche nur unklar und verschwommen wahrnehmen. Was ihre Gesprächspartner sagten, musste sie von deren Lippen ablesen. Mit 29 Jahren bemerkte Milne bei der Fahrt zurück von der Arbeit, dass sie Dinge nicht mehr richtig sehen konnte. Sie ging zum Arzt und bekam die Diagnose: Usher-Syndrom.

Menschen, die am Usher-Syndrom leiden, kommen meistens schon taub oder schwerhörig zur Welt. Später verschlechtert sich auch ihr Sehvermögen - bis hin zur vollständigen Erblindung. Von 100.000 Menschen sind Studien zufolge drei bis vier betroffen. Es gibt verschiedene Untergruppen des Usher-Syndroms (siehe Linktipps am Ende des Textes).

Für Joanne Milne, die ihre Gehörlosigkeit akzeptiert hatte, war die Diagnose ein Schock. Jetzt hatte sie nicht nur kein Gehör, sondern musste auch damit rechnen, bald nichts mehr zu sehen. "Ich hatte panische Angst vor der Zukunft", schreibt sie im Guardian. Doch Milne ließ sich nicht unterkriegen. Sie lernte, einen Blindenstock zu benutzen, legte sich einen Blindenhund zu und beschloss, wieder positiver zu denken.

Lieblingssongs für Jo

In das Hörimplantat setzte sie keine großen Hoffnungen. Als es dann tatsächlich funktionierte, war sie überwältigt. "Zum ersten Mal Vögel singen und Wasser fließen zu hören, das lässt sich nicht in Worte fassen", schreibt Milne. Diesen Moment mit anderen Menschen zu teilen, sei eine "wunderbare Möglichkeit", das Bewusstsein für Menschen mit Usher-Syndrom zu stärken.

Nach dem Eingriff rief einer ihrer Freunde bei einer lokalen Radiostation an und erzählte Milnes Geschichte. Dann stellte er mit dem Senderteam eine Playlist von verschiedenen Songs für sie zusammen, die dort dann auch gespielt wurden. Unter dem Hashtag #songforjo trugen auch Twitter-User ihre Lieblings-Songs zusammen. "One Love" von Bob Marley ist darunter, "Barcelona" von Freddie Mercury und "Smile" von Nat King Cole. "Ich werde mir alle Lieder anhören", schreibt Milne im Guardian. "Und ich hoffe, meine Geschichte kann anderen Menschen helfen."

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