Ins Glück stolpern (II):Die Illusion der Erfahrung

Warum erinnern sich die meisten Menschen an den Morgen des 11. September 2001 aber nicht an den Morgen des 10. September? Warum stehen wir im Supermarkt immer an der längsten Schlange? Weil unser Gedächtnis fehlbar ist.

Im Folgenden geben wir einen Auszug aus dem Buch "Ins Glück stolpern" wieder, das in den USA ein großer Erfolg war und jetzt in deutscher Sprache erschienen ist.

Ins Glück stolpern (II): Daniel Gilbert Ins Glück stolpern - Über die Unvorhersehbarkeit dessen, was wir uns am meisten wünschen Aus dem Englischen von Burkhard Hickisch, Riemann Verlag, 2006, 448 Seiten, 19,00 Euro, ISBN: 3-570-50063-2

Daniel Gilbert Ins Glück stolpern - Über die Unvorhersehbarkeit dessen, was wir uns am meisten wünschen Aus dem Englischen von Burkhard Hickisch, Riemann Verlag, 2006, 448 Seiten, 19,00 Euro, ISBN: 3-570-50063-2

Der Autor zeigt, dass alles, was wir tun und denken, nur eines zum Ziel hat: das Glück zu finden. Doch das Buch ist kein klassischer Ratgeber, wie man den Weg dorthin findet - im Gegenteil: Glück ist nicht planbar. Über Beweise stolpern wir jeden Tag - wir müssen nur mit der Nase darauf gestoßen werden.

Es gibt viele gute Gründe, älter zu werden, aber keiner kennt sie. Wir schlafen zur falschen Zeit ein und wachen zur falschen Zeit auf, essen nicht mehr über den Hunger, und nehmen Pillen, um uns besser daran erinnern zu können, welche anderen Pillen wir noch nehmen müssen.

Das einzig wirklich Gute am Älterwerden besteht darin, dass diejenigen, die noch alle Haare haben, ab und zu gezwungen sind, zurückzustehen und unseren Erfahrungsschatz zu bewundern. Für sie sind unsere Erfahrungen eine Art Reichtum, weil sie glauben, dass wir durch sie nicht den gleichen Fehler zweimal machen - und manchmal stimmt das auch.

Es gibt ein paar Erfahrungen, die man einfach nicht mehr wiederholt, und aus Gründen, die ich hier jetzt lieber nicht ausbreiten möchte, erinnere ich mich in diesem Zusammenhang daran, wie ich einmal Pfefferminzschnaps getrunken und dabei versucht habe, eine Katze zu baden.

Auf der anderen Seite gibt es viele Fehler, die wir trotz unserer großen Erfahrung immer und immer wieder machen.

Wir heiraten eine Person, die der Person, von der wir uns haben scheiden lassen, merkwürdig ähnlich ist; wir nehmen an jährlichen Familientreffen teil und schwören uns jedes Jahr, dass es das letzte Mal gewesen ist; und wir planen sorgfältig unsere monatlichen Ausgaben und stellen dann fest, dass wir schon vor dem Monatsende wieder pleite sind.

Dieser Kreislauf der Rückfälligkeit lässt sich nur schwer erklären. Sollten wir nicht letzten Endes aus unserer eigenen Erfahrung lernen? Die Vorstellungskraft hat ihre Grenzen, so viel steht fest, und vielleicht lässt es sich nicht verhindern, dass wir falsch voraussagen, wie wir uns bei zukünftigen Ereignissen fühlen werden, weil wir zukünftige Ereignisse noch niemals erlebt haben.

Aber wenn wir erst einmal einen fleißigen Geschäftsführer geheiratet haben, der mehr Zeit bei der Arbeit als zu Hause verbringt, oder einem Familientreffen beiwohnten, bei dem die Tanten mit den Onkels wetteiferten, wer die Cousins am besten fertig macht, oder ein paar karge Tage auf den Gehaltsscheck gewartet und während dieser Zeit intime Kenntnis von Reis und Bohnen erworben haben - sollten wir dann nicht in der Lage sein, uns diese Ereignisse mit einem vernünftigen Maß an Genauigkeit vorzustellen und infolgedessen Schritte einleiten, diese Erfahrungen in Zukunft zu vermeiden?

Wir sollten es in der Tat, und wir tun es auch, aber nicht so oft und so gut, wie Sie vielleicht erwarten. Wir versuchen, die Erfahrungen zu wiederholen, an die wir uns mit Vergnügen und Stolz erinnern, und wir versuchen solche nicht zu wiederholen, die uns peinlich sind und die wir bedauern. Das Dumme ist nur, dass wir uns oft nicht richtig an sie erinnern.

Die Illusion der Erfahrung

Wenn wir uns an eine Erfahrung erinnern, dann fühlt sich das so an, als würden wir eine Schublade öffnen und eine Geschichte herausholen, die an dem Tag, an dem sie geschrieben wurde, weggepackt worden ist. Aber wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, ist dieses Gefühl nur eine der ausgeklügelten Illusionen unseres Gehirns.

Ins Glück stolpern (II): Daniel Gilbert

Daniel Gilbert

(Foto: Foto: Riemann Verlag)

Das Gedächtnis ist kein pflichterfüllter Buchhalter, der gewissenhaft all unsere Erfahrungen festhält, sondern ein raffinierter Redakteur, der nur die Schlüsselmomente einer Erfahrung speichert und sie jedes Mal wieder neu zusammenstellt, wenn wir uns an sie erinnern. Diese Methode funktioniert gewöhnlich ganz gut, weil der Redakteur normalerweise genau weiß, auf welche Elemente es ankommt und auf welche man verzichten kann.

Aus diesem Grund erinnern wir uns daran, wie der Bräutigam ausgesehen hat, als er die Braut küsste, und nicht daran, mit welchem Finger sich das Blumenmädchen in diesem Moment in der Nase bohrte. So großartig das Gedächtnis auch immer wieder unsere Erfahrungen aufbereitet, es hat einige Eigenarten, die dazu führen, dass wir die Vergangenheit falsch interpretieren und uns infolgedessen die Zukunft falsch vorstellen.

Lassen Sie mich dafür ein Beispiel anführen. Ich möchte, dass Sie eine Schätzung anstellen: Gibt es mehr vierbuchstabige Wörter, die mit einem K anfangen (K-1-Wörter) oder die ein K als dritten Buchstaben haben (K-3-Wörter)?

Wenn Sie wie die meisten anderen Menschen sind, dann schätzen Sie, dass die K-1-Wörter die K-3-Wörter an Häufigkeit weit übertreffen. Wahrscheinlich beantworten Sie die Frage, indem Sie schnell Ihr Gedächtnis durchforsten ("Hmmm, es gibt Kran, Kohl, Koch, Kerl ..."), und da Sie es leichter finden, sich an K-1-Wörter zu erinnern als an K-3-Wörter, nehmen Sie an, dass mehr Wörter ein K am Anfang haben als an der dritten Stelle. Normalerweise wäre dies eine sehr schöne Ableitung.

Immerhin erinnern Sie sich an mehr vierbeinige Elefanten (E-4) als an sechsbeinige Elefanten (E-6), weil Sie mehr E-4 als E-6 gesehen haben. Und Sie haben mehr E-4 als E-6 gesehen, weil es mehr E-4 als E-6 gibt. Die tatsächliche Anzahl von E-4 und E-6 in der Welt bestimmt, wie oft Sie auf sie treffen, und die Häufigkeit Ihrer Begegnungen bestimmt, wie leicht Sie sich an sie erinnern können.

Leider lassen sich diese Überlegungen, die wir in Bezug auf Elefanten anstellen können, nicht so leicht auf Wörter übertragen. Es ist wirklich einfacher, sich an K-1-Wörter zu erinnern als an K-3-Wörter, aber nicht deswegen, weil Sie mehr K-1- als K-3-Wörtern begegnet sind. Es ist eher leichter, sich an Wörter zu erinnern, die mit einem K anfangen, weil es generell einfacher ist, sich an jedes Wort aufgrund seines Anfangsbuchstabens zu erinnern, anstatt auf den dritten Buchstaben im Wort zu achten.

Unsere mentalen Wörterbücher sind mehr oder weniger alphabetisch geordnet, daher können wir ein Wort in unserem Gedächtnis nur aufgrund seines Anfangsbuchstabens "nachschlagen". Tatsache ist, dass es beispielsweise in der englischen Sprache wesentlich mehr K-3-Wörter als K-1-Wörter gibt, aber weil wir uns leichter an den Anfangsbuchstaben erinnern, beantworten wir die oben gestellte Frage routinemäßig falsch. Das K-Wörter-Puzzle funktioniert deshalb, weil wir auf natürliche (aber inkorrekte) Weise annehmen, dass die Dinge, die uns schnell in den Sinn kommen, auch die Dinge sind, mit denen wir am meisten zu tun haben.

Was für Elefanten und Wörter gilt, trifft auch auf Erfahrungen zu. Die meisten von uns können sich leichter daran erinnern, ein Fahrrad zu fahren als auf einem Yak zu reiten, und daher kommen wir zu der korrekten Schlussfolgerung, dass wir in der Vergangenheit öfter Fahrrad gefahren als auf einem Yak geritten sind. Dies wäre eine unfehlbare Logik - wenn wir dabei außer Acht lassen, dass die Häufigkeit einer bestimmten Erfahrung nicht allein ausschlaggebend dafür ist, wie leicht wir uns an sie erinnern. Vielmehr erinnern wir uns oft gerade an seltene oder ungewöhnliche Erfahrungen, und dies ist auch der Grund, warum sich die meisten Amerikaner genau an den Morgen des 11. September 2001 erinnern, aber nicht an den Morgen des 10. September.

Die Illusion der Erfahrung

Die Tatsache, dass seltene Erfahrungen uns so schnell ins Bewusstsein kommen, kann uns dazu verleiten, ein paar eigenartige Schlussfolgerungen zu ziehen. Solange ich zurückdenken kann, erinnere ich mich zum Beispiel daran, immer das Pech gehabt zu haben, mich im Supermarkt an der Kasse bei der langsamsten Schlange angestellt zu haben. Immer dann, wenn ich es leid war, in der langsamsten Schlange zu warten, und zu einer anderen Kasse gewechselt bin, kam die Schlange, von der ich weggegangen bin, nun schneller voran als die, in der ich jetzt stand.

Nun, wenn dies wirklich der Fall wäre - wenn ich wirklich schlechtes Karma, schlechtes Juju oder eine andere metaphysische Form von Schlechtigkeit hätte, die bewirken würde, dass jede Warteschlange, in die ich mich einreihe, langsamer wird -, dann müsste es auch jemanden geben, der das Gefühl hat, über eine metaphysische Form von Gutheit zu verfügen, die bewirkt, dass jede Schlange, in die er sich einreiht, plötzlich schneller wird. Aber nicht jeder kann jedes Mal in der langsamsten Schlange stehen, nicht wahr?

Und dennoch kenne ich niemanden, der von sich behauptet, Warteschlangen dadurch schneller zu machen, dass er sich ihnen anschließt. Im Gegenteil, fast alle Menschen, die ich kenne, scheinen wie ich zu glauben, dass sie unerbittlich von der langsamsten aller Warteschlangen angezogen werden und dass ihre gelegentlichen Versuche, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, bloß dazu führen, dass die Schlangen, zu denen sie wechseln, langsamer werden, und die, von denen sie weggegangen sind, sich plötzlich schneller vorwärts bewegen.

Warum glauben wir alle so etwas? Weil das Warten in einer Schlange, die sich schnell oder auch nur gleichmäßig vorwärts bewegt, solch eine gedankenverlorene, gewöhnliche Erfahrung ist, dass wir sie nicht bemerken oder uns an sie erinnern. Stattdessen stehen wir gelangweilt herum, werfen einen Blick auf die Boulevardzeitungen, sinnieren über den Schokoladenriegel und fragen uns, welcher Idiot dafür verantwortlich ist, dass Batterien unterschiedlicher Größe durch eine verschiedene Anzahl von A-Buchstaben gekennzeichnet werden und nicht durch Bezeichnungen wie large, medium und small.

Und während wir all dies tun, wenden wir uns beiläufig an unsere Begleitung und sagen: "Sag mal, ist dir aufgefallen, wie normal sich diese Schlange vorwärts bewegt? Ich meine, alles läuft so verdammt problemlos, dass ich mich gezwungen fühle, mir ein paar Notizen zu machen, damit ich andere später mit meiner Erzählung bezaubern kann." Nein, wir erinnern uns nur an die Warteschlangen-Erfahrungen, in denen der Typ mit dem hellroten Hut, der hinter uns gestanden hat, bevor er die Schlange wechselte, inzwischen schon im Auto sitzt, und wir es noch nicht einmal bis zur Kasse geschafft haben, weil die schwerfällige Oma vor uns der Kassiererin ihre Coupons unter die Nase hält und mit ihr über die wahre Bedeutung der Formulierung "mindestens haltbar bis" diskutiert. Dies geschieht in Wirklichkeit nicht sehr oft, aber weil es uns (wie die E-4-Elefanten und K-1-Wörter) im Gedächtnis bleibt, glauben wir, dass wir oft solche Situationen erleben.

[...]

Diese Tendenz, sich an ungewöhnliche Ereignisse zu erinnern und sich auf sie zu verlassen, ist einer der Gründe, warum wir immer wieder die gleichen Fehler machen.

Wenn wir an den Familienurlaub im letzten Jahr denken, erstellen wir keine faire und repräsentative Auswahl der Ereignisse auf unserer zweiwöchigen Tour durch Idaho. Stattdessen erinnern wir uns mühelos sofort an den ersten Samstagnachmittag, als wir mit den Kindern ausgeritten sind und auf unseren Palomino-Pferden den Bergkamm erreicht hatten. Unter uns lag auf einmal ein herrliches Tal, der Fluss schlängelte sich zum Horizont wie ein glitzerndes Band, mit dem die Sonne spielte. Die Luft war frisch, in den Wäldern herrschte Stille. Die Kinder hörten plötzlich auf, sich zu zanken, und saßen gebannt auf ihren Pferden. Irgendwer hauchte leise "wow", und jeder lächelte den anderen an. Der Augenblick war für immer eingefangen als Höhepunkt des gesamten Urlaubs. Aus diesem Grund kommt er einem auch sofort ins Bewusstsein.

Aber wenn wir uns bei der Planung unseres nächsten Urlaubs allein auf diese Erinnerung verlassen und die Tatsache übersehen, dass der Rest der zwei Wochen durch die Bank enttäuschend gewesen war, dann riskieren wir, im nächsten Jahr wieder auf dem gleichen überfüllten Campingplatz zu landen und die gleichen faden Sandwichs zu essen, von den gleichen biestigen Ameisen gebissen zu werden, und wir werden uns darüber wundern, wie wir es geschafft haben, aus unserem Urlaub im letzten Jahr so wenig zu lernen. Weil wir dazu neigen, uns nur an die besten und an die schlechtesten Zeiten zu erinnern und nicht an alle Ereignisse, ist der Reichtum von Erfahrungen, den junge Menschen so bewundern, nicht immer nur von Nutzen.

© * Daniel Gilbert ist Professor der Psychologie an der Harvard University und Direktor des Social Cognition and Emotion Lab. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Beiträge veröffentlicht und ist Herausgeber des Handbook of Social Psychology. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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