Süddeutsche Zeitung

Infantilisierung:Ein Löffel für Mami

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Keine Panik, liebe Babynahrungs-Hersteller: Auch wenn in Deutschland immer weniger Kinder geboren werden, essen dafür die Alten jetzt aus dem Gläschen.

Von Georg Etscheit

Wenn sich Mütter bei Minusgraden bauchnabelfrei auf den Laufsteg der Fußgängerzonen wagen, wenn Väter mit ihren Söhnen um ganz seltene Nike-Turnschuhmodelle wetteifern, ja, dann ist unsere klassische Vorstellung vom "Erwachsensein" irgendwie hinfällig geworden. So wie jetzt.

Eine zunehmend vergreisende, zeugungsunfähige Senioren-Gesellschaft bevölkert Fitnessstudios, Anti-Aging-Institute, Wellnessfarmen, Zeugungskliniken und betrachtet das biologische Alter als quantité négligeable. Sie lieben Kinderprodukte wie Nutella, Eszett-Schnitten oder Kinderschokolade, verzehren "Kinder Prof. Rino" als kleine Zwischenmahlzeit, verfügen sich mit einem Jumbo-Glas Nutella vor den Fernseher - obwohl sie genau das ihren Kindern und Enkeln einst untersagt hatten.

Das Kind im Menschen wird auch in Fastfood-Restaurants geweckt, wo es mit bloßen Händen gigantische weiche Happen verzehren kann.

Aufgegriffen und zum Trend gebündelt hat man diese Tatsachen in dem beschaulichen oberbayerischen Städtchen Pfaffenhofen an der Ilm, wo der Babynahrungskonzern Hipp produziert. Marktumfragen sollen ergeben haben, dass bereits zehn Prozent der Gläschen und 15 Prozent der Hipp-Säfte von Erwachsenen konsumiert werden.

Beim Inhaber Claus Hipp stehen immer ein paar Gläschen nebst Plastiklöffel auf dem Schreibtisch, und auch im Auto hat er immer ein Fruchtgläschen dabei. "Ich habe gerne Früchte und speziell Aprikosen, aber ich probiere auch quer durch, wenn man immer das Gleiche hat, wird's auch langweilig" - dies verriet der 66 Jahre alte Unternehmer in seiner jüngst erschienenen Biografie.

Fieberhaft suchen Produzenten wie er oder Konkurrenten wie Alete und Milupa nach Auswegen aus der Geburtenfalle. Nur 715.000 Kinder wurden im Jahr 2003 geboren, rund anderthalb Prozent weniger als im Vorjahr und so wenig wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik.

Der kollektive Zeugungsboykott ist für die auf Babys spezialisierten Firmen ein Schlag ins Kontor. Die bunten Gläschen nun als Trendsnack für Erwachsene auszurufen, scheint ein smarter Schachzug zu sein.

Das Image makelloser Reinheit, das der Babynahrung anhaftet, ist leicht übertragbar; gerade für gesundheitsbewusste Jugendliche und Erwachsene sind Attribute wie "kalorienarm", "schadstofffrei", "salzarm" oder "zuckerfrei" sehr ansprechend.

Schließlich ist ein Gläschen Obstkompott etwa so nahrhaft wie eine Banane und belastet die Figur längst nicht so stark wie ein Schokoriegel. Für Babygläschen als Alternative zur Brigitte-Diät wirbt schon ein Diätbuch: "Slim-Diät. Nehmen Sie ab mit Babynahrung."

Claus Hipp weiß, warum Männer und Frauen zu Hause und im Büro, aber auch Jugendliche auf dem Pausenhof immer häufiger zum Babygläschen greifen: "Es gibt auch kosmetische Gründe, zum Beispiel Karotten zu nehmen, weil man davon eine schöne Haut bekommt oder weil die Sonnenbrandgefahr wesentlich reduziert wird." Ältere Menschen hätten beim Verzehr von Babykost vielleicht "das Gefühl, dass das junge Image auf sie übergeht".

Möglicherweise weckt die breiige, klebrige Konsistenz, ähnlich wie bei Nutella, aber einfach wohlige Erinnerungen an die eigene Kindheit, als man auf dem Elternschoß - ein Löffel für Papi, ein Löffel für Mami - den Wohltaten der eigenen Erzeuger regelrecht ausgeliefert war.

Offensiv beworben wird der neue Trend von den Babynahrungsproduzenten noch nicht, jedoch als Mitnahmeeffekt durchaus geschätzt. Hipp bietet auch fettreduzierte Müslis an, die sich ganz dezidiert an Menschen richten, die dem Babyalter entwachsen sind.

Konkurrent Alete, Teil des Nestlé-Konzerns, vermarktet unter der neuen Marke Nutrel drei Energieriegel für Erwachsene und bemüht sich ansonsten, die Zeitspanne zu verlängern, in der Mütter ihren Sprösslingen Babynahrung verabreichen: "Wenn wir erreichen, dass auch über das erste Lebensjahr hinaus spezielle Kinderkost gefüttert wird, könnten wir den Geburtenrückgang ein Stück weit auffangen", so Alete-Sprecherin Elke Schmidt.

Der Unternehmensberater Stefan Reidl von der Nürnberger A.GE Agentur für Generationenmarketing sieht bei Eltern und Senioren noch reichlich Potential für die Babybranche. Die Größe der Gläschen sei ideal für den kleinen Snack zwischendurch. Vor allem Obstbreie seien problemlos zu vermarkten. Gemüse sollte aber für Erwachsene noch "bissfester" sein, wünscht sich Reidl.

Für Liebhaber gehobener Kochkunst ist Babybrei, auch wenn er aus kontrolliert biologischem Anbau stammt, allerdings keine besonders verlockende kulinarische Perspektive. Viele Gläschen schmecken - Baby mag es mild - nach einem großen Löffel voller Garnichts. Und wer nachträglich Salz, Pfeffer und andere Gewürze dazugibt, zerstört womöglich den guten Effekt. Hipp gibt vorsorglich im Internet Tipps zur Veredelung der Produkte: "Sie werden überrascht sein: So schnell und einfach zaubern Sie mit Babykost eine komplette Mahlzeit oder einen köstlichen Nachtisch für große und kleine Feinschmecker."

Aus einem Glas " Junior Früchte-Salat" wird durch Beigabe von drei gehäuften Teelöffeln Mayonnaise, einem Jogurt, einem Esslöffel Zitronensaft, einer Prise Salz, zwei Esslöffeln gehackter Petersilie sowie sechs mittelgroßen geriebenen Karotten ganz fix ein "pikanter Karottensalat". Beinahe verlockend klingt auch die "Spinat-Bärlauch-Sauce für Erwachsene", zu der nach Zugabe von einem halben Gemüsebrühewürfel und zwei Esslöffeln Bärlauch-Frischkäse ein Gläschen Rahm-Spinat mit Kartoffeln mutiert.

Ernährungsfachleute schütteln darüber bislang noch den Kopf. "Völlig unsinnig", tadelt sogar die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Babynahrung sei auf die Bedürfnisse von Kleinkindern im ersten Lebensjahr abgestimmt. Frische Äpfel, belegte Brote mit Gemüseschnitzen und Jogurt seien die besseren Zwischenmahlzeiten.

"Erwachsene sollen keinen Brei essen, weil sie ja noch alle Zähne haben und kauen sollen", erklärt nicht minder geduldig Sabine Schuster-Voldan von der Bayerischen Verbraucherzentrale in München.

Vielleicht sind wir auch einfach noch ein bisschen zu jung für Babynahrung.

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SZ am Wochenende 20./21.11.2004
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