Indien:Fast wie im richtigen Film

Wieder einmal wurde der Bollywoodstar Sanjay Dutt aus der Haft entlassen - die Anwälte nutzten einen Formfehler. Dutts eigenes Leben ist schon lange dramatischer als jede Rolle.

Oliver Meiler

Manchmal ist das wahre Leben der bessere Plot. Als Sanjay Dutt, der Bruce Willis Bollywoods, auch "Deadly Dutt" ("Tödlicher Dutt") genannt, am Donnerstag in aller Früh das Hochsicherheitsgefängnis von Pune verlassen durfte, jeden der freudig erregten Polizisten einzeln grüßte, den wartenden Fernsehleuten sein bestes, also traurigstes Lächeln schenkte und in den Wagen seiner angereisten Schwester stieg, war es, als fände ein indisches Melodrama mit einigem kriminellen Potential ein fast wundersames Happy End. Aber nur fast. Es ist ein Happy End auf Zeit. Nur eines ist sicher. Ganz Indien schaut zu.

Indien: Der Bollywood-Star Sanjay Dutt nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis in Pune

Der Bollywood-Star Sanjay Dutt nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis in Pune

(Foto: Foto: AFP)

Formfehler ausgenutzt

Sanjay Dutt, 48 Jahre alt, einer der großen Stars der überdrehten indischen Filmwelt, ist zwischenzeitlich frei - auf Kaution. Vielleicht für einen Monat, vielleicht für zwei Monate.

Seine Anwälte haben im Urteil gegen ihren Mandanten einen kleinen Formfehler ausgemacht. Und den haben sie ausgenutzt. Dutt war Ende Juli in Bombay zu sechs Jahren Haft verurteilt worden - wegen illegalen Besitzes von zwei Schusswaffen: einer Neun-Millimeter-Pistole und einer AK-56 Schnellfeuerwaffe.

Die Waffen hatten ihm Freunde aus der Unterwelt verschafft. Leute, die verwickelt waren in die Bombenattentate in Bombay am 12. März 1993. Dreizehn Bomben, gezündet in Serie, 257 Tote, mehr als 800 Verletzte. Es war ein Vergeltungsschlag von muslimischen Fundamentalisten. Davor hatten radikale Hindu-Nationalisten die alte Babri-Moschee im nordindischen Ayodhya zerstört. Fanatiker gegen Fanatiker.

Es gab schwere Zusammenstöße, es gab viele Tote. Die meisten waren Muslime. Die Unruhen von 1993 stellten den Religionsfrieden Indiens, diese große Errungenschaft, auf eine harte Probe.

Der Name Dutts, Sohn einer Muslimin und eines Hindu, tauchte bald nach den Anschlägen auf. Zwei der Hauptangeklagten hatten ihn ins Spiel gebracht. Man wusste nicht, ob man ihnen trauen konnte, ob sie sich nur aufspielten. Sie berichteten, sie hätten dem jungen Schauspieler Waffen geliefert. Und Munition.

Dutt, Spross und Sorgenkind einer bedeutenden Schauspieler- und Politikerdynastie, war damals 34 Jahre alt und gezeichnet von den Exzessen seiner Jugend. Er hatte harte Drogen konsumiert, gedealt, er verschenkte den Stoff auch an Freunde, die ihn sich nicht leisten konnten. Aber Terrorismus? Das passte nicht.

Die Klatschpresse hatte schon immer ihre Freude an ihm, leuchtete jede Ecke seines turbulenten Privatlebens aus. Er bot den Stoff, den sie brauchte. Aus seiner Jugendzeit stammt das Image, von dem er auch künstlerisch lebte: der böse Junge mit dem großen Herz. Er galt bald als schräger Robin Hood, als liebenswürdiger Gangster. Das ist sein Alter Ego im Film. Das Magazin India Today nannte ihn kürzlich einmal "Forrest Gump in den Klamotten des Marlboro-Mannes".

Fast wie im richtigen Film

Als ihn die Richter vorluden, war das ein Schock. Für alle, trotz des ohnehin angeschlagenen Leumunds Dutts, trotz früherer Verfahren wegen Geldwäscherei. Vor Gericht gab er seine zwielichtigen Bekanntschaften zu und auch den Waffenbesitz. Er sagte, er habe sich die Waffen zugelegt, um in den Wirren des Jahres 1993 seine Familie zu beschützen.

Indien: Im Jahr spielte Sanjay Dutt die Hauptrolle im Film "Mission Kashmir"

Im Jahr spielte Sanjay Dutt die Hauptrolle im Film "Mission Kashmir"

(Foto: Foto: AP)

Wenig überzeugende Argumentation

Sehr überzeugend war das nicht. Sanjays Vater, Sunil Dutt, war ein einflussreiches Mitglied der regierenden Kongresspartei, Parlamentarier, später auch einmal Minister. Wenn die Familie Schutz gebraucht hätte, dann hätte er welchen beantragen können - beim Staat.

Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Dutt war der prominenteste unter den 189 Angeklagten. Zwölf von ihnen wurden zum Tod verurteilt, zwanzig zu lebenslänglichem Freiheitsentzug. An Sanjay Dutt blieb am Ende aber nur der Vorwurf des illegalen Waffenbesitzes haften. Mehr konnte man ihm nicht nachweisen. Ganz davon kam er aber trotzdem nicht. Und das war eine Sensation.

In Indien greift der Arm der Justiz meist nur nach den kleinen Fischen, selten nach den großen: den Stars, den Politikern, den Kindern der Granden. Selbst dann nicht, wenn sie es verdient hätten. Prozesse gegen Mächtige und Prominente geraten oft zur Farce. Indiens heillos überforderte Justiz hat auch darum einen schlechten Ruf, weil sie als selektiv gilt, als elitär.

Geistreiches vom Richter

Dutt war eine Ausnahme. An ihm wollte man ein Exempel statuieren. Vielen schien, zumal seinen Millionen Fans, dass hier einer für viele und für die Ehrenrettung der Justiz bezahlen müsse. Einige glaubten, dass die Hintermänner und die mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge von Bombay nie ernsthaft gesucht wurden und auch nie gefunden werden sollten. Man wähnte sie in der Politik und in der Polizei.

Als sie Dutt 1995 aus der Untersuchungshaft entließen, schon damals gegen Kaution, machte er einen Film nach dem anderen, hastete von Drehort zu Drehort, heiratete ein zweites Mal, ließ sich wieder scheiden. Er gab den Verfolgten. Als spürte er, was kommen würde.

Am 31. Juli 2007, mehr als vierzehn Jahre nach den Anschlägen, fiel dann endlich das Urteil gegen Sanjay Dutt: sechs Jahre Haft. 18 Monate hatte er in den Neunzigern schon abgesessen. Bleiben noch viereinhalb Jahre.

Nach dem Verlesen des Strafmaßes outete sich der Richter mit einer paternalistischen und geistreichen Spitze auch als Fan: "Lassen Sie sich nicht unterkriegen, Sie haben noch viele Lebens- und Arbeitsjahre vor sich, denken Sie nur an Gregory Peck in 'Mackenna's Gold'." Das war ein Western, gedreht 1969. In der letzten Filmszene entdeckt der tragische Held, gespielt von Gregory Peck, unter dem Sattel seines Pferdes einen Haufen Gold.

Sanjay Dutt war trotzdem am Boden zerstört. Seine öffentlichen Tränen und seine wortreich beschworene Reue für "naive Jugendsünden" rührten die Nation. Und die indische Presse hatte ihr Sommerthema. Die seriösen Blätter fragten, ob das Urteil fair sei. Die weniger seriösen schrieben, mit wem Dutt die letzte Nacht verbrachte, bevor er nach Pune gebracht wurde. Vor den Toren des Gefängnisses versammelten sich Fans und Medien in Erwartung einer neuen Wende in diesem Justizthriller aus Bollywood.

Und die kam nun also am Donnerstag, 23 Tage nach der Verhaftung. Dutts Verteidiger hatten moniert, der geistreiche und gnadenlose Richter habe es versäumt, ihnen eine Kopie des Urteils zuzusenden. Für ein paar Wochen Freiheit auf Kaution dürfte das reichen.

Es kann also sein, dass Sanjay Dutt in dieser Zeit seine drei bereits angedrehten Filme zu Ende bringt: "Alibaug", "Kidnap", "Mr. Fraud". "Wenn er für, sagen wir mal, 60 Tage draußen ist und jeden Tag dreht, dann sollte er sie alle fertig bekommen", sagte Bollywood-Insider Komal Nahata. Das hoffen sie alle: die Kollegen, die Produzenten, das Publikum. Und der Justizminister. Denn auch der war "froh" über die Kunde aus Pune. Ein anderer Minister ließ ausrichten, "die gesamte Kongresspartei" freue sich mit der Familie Dutt.

Aber vielleicht muss er ja auch gar nie mehr zurück, "Deadly Dutt". Er wäre dann das Stigma des Sonderfalls los.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: