Es ist eines der gigantischsten Bauprojekte des 21.Jahrhunderts: Delhi und Mumbai rücken zusammen, zwischen Hauptstadt und Wirtschaftsmetropole sollen wie am Fließband auf 1500 Kilometern neue Autobahnen, Flug- und Seehäfen entstehen - sowie zwei Dutzend Megastädte. Indien denkt groß. Das Wachstum ist, trotz aktueller Delle, schon seit Jahren enorm, die wohlhabende Schicht konsumiert im Hurra-Stil und stellt ihr neues Selbstbewusstsein gerne zur Schau.
In naher Zukunft wird die frühere britische Kolonie die bevölkerungsreichste Nation der Erde sein. Noch dazu ist Indien eine mehr oder weniger funktionierende Demokratie, anders als sein Nachbar China. Ein Land also, das Sinn- und Goldsucher gleichermaßen glücklich machen kann? Eine beeindruckende, nachhaltige Erfolgsgeschichte aus dem Zeitalter der Globalisierung? Nur in Ansätzen. Es gibt eine dunkle Seite. Sie hat nichts zu tun mit der modernen Aufgeklärtheit eines Landes, das sein Profil schärft, um im 21.Jahrhundert ein gewichtiges Wort in der globalen Ordnung mitzureden. Diese Seite offenbart eher mittelalterliche Denkmuster.
Die dunkle Seite Indiens
So wie Wachstum, gigantische Bauprojekte, ausgelebter Wohlstand extrem sind, bleiben Armut, Unterwürfigkeit, Klassen- und Kastendenken in weiten Teilen der Gesellschaft extrem - ebenso wie Gewaltausbrüche. Auf diesem Nährboden der Extreme ereignete sich vor einem Jahr in Delhi eine abscheuliche Tat: Sechs Männer fielen über eine Studentin her, vergewaltigten und malträtierten sie mit einer Eisenstange. Die Verletzungen waren so heftig, dass die junge Frau später im Krankenhaus starb. Das Land reagierte geschockt. Es wirkte so, als könne der bestialische Vorfall eine kathartische Wirkung entfalten, als würde Indien grundlegend über seine patriarchalischen Strukturen reflektieren.
Ein erstes Fazit: Die Mittelklasse ist, wie zuvor nur beim Thema Korruption, auf die Barrikaden gegangen. Nachrichtensender rufen "Stopp-die-Schande"-Kampagnen aus, wenn ein prominenter Vergewaltigungsfall publik wird. Das hat damit zu tun, dass in Delhi ein Kind genau dieser Klasse das Opfer war. Es war die Solidaritätsbekundung einer Schicht, die in den vergangenen Jahren viel dazugewonnen hat und sich Sorgen um ihren Fortschritt macht, wenn die Gesellschaft in den tradierten Strukturen verhaftet bleibt.
Immerhin: Vergewaltigungsgesetze wurden verschärft
Dass die Vergewaltigung von Delhi kein Einzelfall war, belegen offizielle Zahlen: Alle 21 Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Wie tief verankert die geschlechtsspezifische Diskriminierung ist, beweist eine andere Statistik aus dem Bundesstaat Haryana: Auf 1000 Jungen kommen hier nur noch 830 Mädchen. Aus Angst vor der horrenden Mitgift bleibt die massenhafte Abtreibung weiblicher Föten Teil des indischen Alltags, nicht nur in besonders konservativen Regionen.
Das sind nicht die einzigen Fakten, die Zweifel an der indischen Reformfähigkeit wecken. Das Oberste Gericht des Landes hat gerade klargestellt: Gleichgeschlechtlicher Sex bleibt ein Verbrechen, das mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden kann. Es wäre die Aufgabe der Politik, die Gesetze entsprechend zu ändern. Aber die Regierung rettet sich nur durch den letzten Rest dieser misslungenen Legislaturperiode. Als Reaktion auf das Verbrechen vom 16. Dezember hat das Parlament immerhin die Vergewaltigungsgesetze verschärft.
Auch verhandelte ein Gericht die Tat ungewohnt zügig. Die Justiz befriedigte mit dem Todesurteil für vier Angeklagte ein gesellschaftliches Rachebedürfnis. Doch Indien wird mehr als bisher die Kraft aufbringen müssen, sich tief in die Seele zu schauen. Nur so kann es den dringend erforderlichen gesellschaftspolitischen Wandel dem ökonomischen Aufschwung annähern.