Indien:Der verwundbare Mensch

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Ein Mann trägt ein Baby durch die Fluten von Kerala. Solche Bilder sehen die Inder nun Stunde um Stunde im Fernsehen und online.

(Foto: Hindustan Times/imago)

Es sind die schlimmsten Überschwemmungen seit 100 Jahren: Mehr als 300 Inder sind bereits in den Fluten des südlichen Bundesstaats Kerala gestorben. Viele kämpfen um ihr Leben. Jetzt zählt jede Stunde.

Von Arne Perras, Singapur

Eines Nachts hören die Inder an den Fernsehschirmen die Stimme von Saji Cherian. Er ist ein südindischer Abgeordneter aus Chengannur, im Bundesstaat Kerala. Seine Stimme klingt hastig, aufgelöst, irgendwann merken sie, dass er zu weinen beginnt. "Bitte gebt uns einen Helikopter, ich flehe euch an. Bitte helft mir, Leute in meiner Gegend werden sterben."

An heftige Monsunregen sind die Menschen in Indien seit Jahrtausenden gewöhnt

Hubschrauber. Sie werden im Katastrophengebiet im Süden Indiens nun oft über Leben und Tod entscheiden. Bei großflächigen Überschwemmungen gibt es immer viel zu wenige von ihnen, in solchen Stunden fehlen auch überall Rettungsboote, jeder Staat der Welt ist angesichts solcher Naturgewalten überfordert. Sie zeigen, wie verwundbar die Menschen sind. "Kerala erlebt die schlimmste Flut seit hundert Jahren", sagt Pinarayi Vijayan, Ministerpräsident des Bundesstaates.

An heftige Monsunregen sind die Menschen auf dem Subkontinent seit Jahrtausenden gewöhnt. Aber jetzt, wo seit Wochen so viel Wasser ohne Pause vom Himmel fällt, bringt es Verderben. Mehr als 300 Inder sind schon gestorben in Kerala, täglich bergen Rettungskräfte Dutzende weitere Leichen. Vijayan hat längst zusätzliche Helikopter angefordert, Armee, Luftwaffe, Marine, sie alle sind im Großeinsatz, doch in Chengannur und anderen abgeschnittenen Orten zählt jetzt jede Stunde.

Videos zeigen, wie Soldaten Schwangere, Alte und Kinder von den Dächern holen, doch die Kameras sind nicht überall. Und noch kann man in dem Chaos all die Verschwundenen gar nicht zählen, geschweige denn nach ihnen suchen. Hunderttausende Bewohner haben Zuflucht in Notunterkünften gefunden, Regierungschef Vijayan schätzt, dass die Fluten bis zu zwei Millionen Menschen aus ihren Dörfern getrieben haben, in Camps werden sie vor allem von Freiwilligen versorgt. Premierminister Narendra Modi ließ sich am Samstag über die Gebiete im Südwesten fliegen, um sich ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe zu machen. Er versprach, die Nothilfe auszuweiten, doch viele Gegenden sind eben nur noch aus der Luft zu erreichen.

Viel wird davon abhängen, ob und wie lange der ungewöhnlich starke Regen nachlässt, die Prognose für die kommenden fünf Tage ist günstig, der Regen soll ab Montag nachlassen. In den 78 Monsuntagen, die Kerala in diesem Jahr erlebt hat, registrierten die Meteorologen an 65 Tagen Mengen über der gewöhnlichen Menge, und in der vergangenen Woche spitzte sich die Lage noch einmal zu. Innerhalb von 40 Stunden kam so viel Wasser vom Himmel wie sonst im Laufe von zwei Wochen. Alles in allem brachte der Südwestmonsun bisher fast um die Hälfte mehr Regen als gewöhnlich. Was das anrichtet, kann die Nation nun Stunde für Stunde im Fernsehen oder online verfolgen: erschöpfte Eltern, die ihre Kinder durch die Fluten schleppen, auf der Suche nach Trinkwasser.

Retter kämpfen um das Überleben der Eingeschlossenen, Klimaforscher suchen nach Erklärungen, etwa das Expertenteam um Sivanda Pai vom India Meteorological Department (IMD) mit Sitz in Pune. "Schwere Regenfälle hat es auch früher in Kerala gegeben, aber nicht in dieser Kontinuität", sagt Pai im indischen Online-Magazin LiveMint. Nach seiner Analyse steigt aber die Intensität des täglichen Regens an. Extreme Wetterereignisse nehmen zu, das sei weltweit zu beobachten, erklärt die Physikerin und Gründerin des Climate Change Research Institutes in Delhi, doch sei Indien, mit seiner besonderen Geografie und so vielen Menschen, besonders verwundbar. Das mache es umso dringlicher für ihr Land, Pläne auszuarbeiten, wie man die Folgen des Klimawandels künftig mindern und besser beherrschen könne.

Die Katastrophe in Kerala dürfte auch die Debatte um die Zerstörung bewaldeter Gebiete anheizen, Umweltschützer warnen seit Langem davor, dass das Abholzen und der unkontrollierte Ausbau von Steinbrüchen und Siedlungen in den Bergen das Risiko von Überflutungen erhöhen. Der Ökologe Madhav Gadgil prangert die "unverantwortliche Umweltpolitik" in Kerala als einen wesentlichen Grund für die schlimme Lage an, die Regierung hätte wichtige Empfehlungen zum Schutz der Berge und Wälder stets ignoriert. Und erntet nun die Folgen.

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