Süddeutsche Zeitung

Identifizierung der 9/11-Opfer:Wenn ich nur vergessen könnte

21.000 Leichenteile, geborgen aus dem Schutt, in Tüten angekarrt. Amy Mundorff gehört zu dem Team der Gerichtsmediziner, das die Opfer des 11. September identifizieren musste. Heute kämpft die Forensikerin Tag für Tag mit ihren Erinnerungen.

Jörg Häntzschel, New York

Amy Mundorff sah jeden, der in Manhattan eines unnatürlichen Todes gestorben war, sei es durch Mord, Selbstmord oder einen Unfall. Um die zehn Leichen lagen jeden Morgen auf den Tischen der New Yorker Gerichtsmedizin, ihre Identitäten und ihr Tod Rätsel, die von Mundorff und ihren Kollegen zu lösen waren. Oft waren die Toten in einem schlimmen Zustand: verbrannt, verwest, zerstückelt, mumifiziert. Mundorff, die forensische Anthropologin ist, war zuständig für die Skelette. "Ich mag meine Knochen am liebsten trocken", sagt sie. "Es war mein Traumjob."

Dann kam 9/11.

Was genau passiert war, das wusste an diesem Morgen auch in ihrer Behörde niemand. Dennoch kam Mundorff, die damals erst 32 war, gerne mit, als ihr Chef mit einem kleinen Team zu den brennenden Twin Towers aufbrach. Kaum waren sie angekommen, schlug ein "Springer" nicht weit von ihr aufs Pflaster - "ein hohles, schreckliches Geräusch. Wie ein Stapel nasser Zeitungen, die auf eine leere Metallkiste geworfen werden." Mundorff musste sich fast übergeben.

Sie ahnte, wie leichtsinnig es gewesen war, ohne Schutzausrüstung herzukommen; wie sinnlos ihre Anwesenheit hier war. Minuten später sackte der erste Turm in sich zusammen. Die Flutwelle aus Staub hob sie hoch und schleuderte sie gegen eine Wand.

Mundorff war begraben unter Staub, Beton und Glaswolle. Doch sie sagt: "Ich war begraben", als sei sie tatsächlich tot gewesen. Einer ihrer Kollegen hatte ein Stück Metall im Fuß, ein anderer einen Schädelbruch und Trümmersplitter in den Augen. Mundorff hatte eine Gehirnerschütterung, mehrere gebrochene Rippen, Schürfwunden und Prellungen am ganzen Körper.

"Haben Sie den Salat probiert? Schmeckt toll", sagt sie und lächelt, während draußen die Schäden eines Gewittersturms beseitigt werden. 2004 hat sie gekündigt. Mit ihrem Mann und ihrer dreijährigen Tochter lebt sie jetzt in Knoxville, Tennessee, in einem idyllischen kleinen Haus. Sie ist Professorin an der Universität. Es gebe kein besseres Forensik-Institut in den USA als dieses, sagt sie. Dennoch vermisst sie New York: "Nicht die Angst und den Hype. Aber die Echtheit der Leute, die schönen Menschen. Nur die Leichen fehlen mir nicht."

Als sie sich am 13. September zurück zur Arbeit schleppte, rollte eine Operation an, wie es sie in ihrem beruflichen Umfeld noch nie gegeben hatte. Knapp 3000 Menschen waren im Schutt gestorben, das war bald klar, doch gefunden wurden 21.000 Leichenteile, die Mundorff und ihre Kollegen nun zu identifizieren versuchten.

Sieben Tage die Woche stand sie zwölf Stunden lang in den Zelten, die neben dem gerichtsmedizinischen Institut an der 30. Straße aufgebaut wurden, und versuchte, den Toten einen Namen zu geben. Die ersten Leichensäcke kamen direkt von Ground Zero, gefüllt von den Feuerwehrleuten, die auf dem Trümmerberg herumstiegen. Immer wenn die Regale in einem der Kühllaster voll waren, fuhr dieser mit Polizei-Eskorte in die 30. Straße, wo Mundorff mit Helfern von der Polizei und vom FBI an die Arbeit ging.

Mundorffs Aufgabe war die Vorsortierung der Funde: "Ich machte den Sack auf, nahm die Stücke heraus und sagte: Schädelfragment, Hüftfragment, Hand, und die Helfer packten dann jedes Teil in eine kleine rote Tüte. Alles, was nicht durch Gewebe verbunden war, wurde als einzelner Fall behandelt. Gelegentlich enthielten die Säcke ganze Körper, manche noch mit Fetzen von Kleidung, manche mit Ausweisen darin. In anderen lagen manchmal hundert einzelne Teile."

In den ersten Wochen ließen sich die Leichen oft noch anhand von Fingerabdrücken, Tattoos, Ringen identifizieren. Mundorff beugt sich zu ihrem Computer auf dem Couchtisch. "So sahen sie anfangs aus. Er ist ganz gut erhalten." Auf dem Bildschirm ist ein grau-brauner Kloß mit faltiger Oberfläche zu sehen. - Was . . . ? "Das ist ein Kopf."

Doch spätestens, als man begann, die 1,8 Millionen Tonnen Schutt auf Lastkähne zu verladen und auf die ehemalige Müllkippe Fresh Kills auf Staten Island zu bringen, blieb den Gerichtsmedizinern meist wenig mehr als die DNS-Analyse und der Abgleich mit den DNS-Proben von Zahnbürsten und Kämmen der Opfer. Bis zu 700 Menschen suchten mit Sieben und an Fließbändern in dem Geröll nach Resten von Mensch.

In einem Brustkorb fand Mundorff die abgetrennte Hand eines anderen

Was der Einsturz der Türme und die drei Monate lang brennenden Feuer mit den Körpern der Opfer angerichtet hatten, überstieg die Vorstellungskraft von Mundorff und ihren Kollegen. Sie sah: mumifizierte Leichen, denen der Betonstaub alles Wasser entzogen hatte. Geräucherte Leichen, die so lange im kochenden Löschwasser gelegen hatten, dass das Fleisch von ihren Knochen fiel "wie von einem Truthahn an Thanksgiving". Leichen, die fast unentwirrbar ineinander verkeilt waren: In einem Brustkorb - Mundorff klickt sich durch ihr Schreckensalbum zu einem Röntgenbild - fand sie die abgetrennte Hand eines anderen Mannes.

Knochen wie diese hatte selbst Mundorff noch nie gesehen. "Manche hatten sich in der Hitze aufgerollt." Aus anderen war alles organische Material herausgebrannt: "Wenn man sie fallen lässt, bleibt nur Staub." Eines Nachts wurde sie zu Ground Zero gerufen, weil man auf einen Hohlraum gestoßen war, in dem ein paar Polizisten Zuflucht gesucht hatten: "Es war ein Haufen aus Knochen und Pistolen."

Monoton sei die Arbeit nie gewesen. "Wir lernten unglaublich viel." Als zwei Monate nach dem 11. September in Queens ein Airbus mit 251 Menschen abstürzte, wandte man die Erkenntnisse gleich an. "100 Prozent Opferidentifizierung in weniger als einem Monat! Und das bei vielen Verbrennungen und Fragmentierungen. Das gab's noch nie!" Doch der forsche Ton verliert sich gleich wieder: "Es saßen eine Menge Kinder in diesem Flugzeug, und sie waren erkennbar. Das war hart."

Sie mögen es nicht, wenn sie erkennbar sind?"

Nein. Dann sind sie realer."

Auch die Opfer aus dem World Trade Center wurden realer, als es Mundorff lieb war. Anfangs waren die meisten nicht mehr als eine Nummer auf einer Tüte mit einem Stück Knochen darin. Gelang der Abgleich mit der DNS-Bank, bekamen sie einen Namen. Doch um sicherzugehen, dass keine Verwechslung vorlag, musste Mundorff am Ende doch in die Akten und auf die Fotos sehen.

Mit Angehörigen spricht sie nicht gerne, es ist "nicht gesund für mich"

Auch auf dem Heimweg zur Grand Central Station verfolgten sie die Toten. Die "Missing"-Plakate hingen damals an jedem Laternenmasten. "Einmal arbeitete ich an einer Frau, die einen Ausweis bei sich hatte. Sie war ungefähr von hier bis hier", deutet sie den Torso an. "Am Abend sah ich ihr Bild auf der Straße und dachte mir: Ich habe vorhin deine Luftröhre gesehen. Es war zu viel." Und sie sagt: "Von manchen Leuten lernte ich allmählich die Namen. Ich hatte, sagen wir, 50 Teile von Amy Mundorff. Dann sagte ich mir: ,Arme Amy, dir geht's aber gar nicht gut!'"

Sie tauft die Leichenteile auf ihren eigenen Namen. Der Satz hängt bis zum Schluss im Raum.

Sie sprach auch nicht gerne mit den Familien. "Manche meiner Kollegen tun das deshalb gerne, weil es den Angehörigen hilft. Für mich ist es nicht gesund. Es lässt meine Abwehrmechanismen erodieren." Ohnehin waren viele enttäuscht von dem, was Mundorff und ihre Kollegen ihnen zeigen konnten: "Wie verhält man sich zu einem Unterschenkelknochen?"

Von den 2753 Opfern sind nur 1629 identifiziert

Manche ließen das erste identifizierte Fragment in einen Sarg legen, begruben es, als sei es der ganze Mensch, und wollten nie wieder kontaktiert werden, selbst wenn später ein fast intakter Körper auftauchte. Andere sagten: Das ist mir zu wenig, wenn Mundorff einen Punkt auf ein großes Skelettschema malte, und warteten auf mehr. Wieder andere ließen die Gräber immer wieder öffnen, um jeden neuen Fund hinzuzufügen. Es gibt aber auch namenlose identifizierte Tote, für die nie jemand eine DNS-Probe abgegeben hat.

Trotz neuer Analysemethoden hatten Mundorff und ihre Kollegen nach den ersten paar Jahren immer seltener Erfolg. Von den 2753 Opfern sind bis heute nur 1629 identifiziert. Nur 27 von ihnen kamen in den letzten fünf Jahren hinzu. Ein Großteil der übrigen 1121 seien "verdampft", wie es Mundorffs damaligem Chef Charles Hirsh einmal herausrutschte. Mit der sinkenden Erfolgsquote sank auch Mundorffs Enthusiasmus: "Wäre ich einer von ihnen gewesen, ich hätte meine Leichenteile nicht haben wollen. Man hätte die 80 Millionen Dollar, die dieses Unternehmen kostete, besser in Schulen investiert." Meine Leichenteile - noch so eine seltsame Formulierung.

Mehr noch als die immer mühsamere Suche setzte ihr aber ihr eigener Beinahetod am Rand von Ground Zero zu. "Ich glaubte nicht, ich würde sterben, als ich da lag, ich wusste es. Seitdem bin ich besessen von dieser Vorstellung. Es war wie ein Fenster, durch das ich etwas sah, was ich nicht sehen wollte: Wie es ist, wenn man vor dem Tod steht. Das ist jetzt Teil von meinem Leben. Wenn ich nur vergessen könnte, wie sich das anfühlt!"

Sie kann es nicht. Am schlimmsten waren die ersten Wochen. Sie weinte bei jeder Gelegenheit. Jedes laute Geräusch ängstigte sie. Wochenlang zuckte sie unkontrolliert wie die Soldaten, die shell-shocked aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrten. Doch auch nachdem sich diese Symptome gelegt hatten, fand sie nicht wieder zurück zu ihrem alten Selbst. "Ich habe meine Leichtigkeit verloren. Alles ist flach; alles liegt wie unter einem Schatten. Und ich werde wegen jeder Kleinigkeit wütend."

Der Gedanke ans Sterben lässt sie nicht mehr los: "Ich sehe einen toten Hund und frage mich, ob er leiden musste, bevor er starb. Ich denke an die Leute in den oberen Stockwerken, wo die Feuer brannten. Sie warfen ihre Führerscheine hinunter. Sie wussten, dass sie sterben würden! Genau wie die Eltern in dem Flugzeug, die ihren Babys die Pässe in die Windeln steckten."

Ihr eigenes Leben und der Tod, der ihre Arbeit war, sie sind wie kurzgeschlossen. Ihre Arbeit half Hunderten, ihren Frieden zu machen mit dem Tod ihrer Lieben, abzuschließen mit dem, was passiert ist. Doch sie selbst findet den Frieden nicht. "Wenn ich im Flugzeug sitze, sehe ich lauter Leichen. Der hat einen Ring; der hat eine Narbe; ich bin die einzige Frau an Bord, bei mir werden sie es leicht haben; und der Dicke, wie kriegen wir den wohl auf die Bahre? Jedes Mal, wenn mein Mann und meine Tochter fliegen, sehe ich sie bei der Identifizierung."

Der Hund unter dem Couchtisch schreckt aus dem Schlaf auf. "Na, hast du geträumt?", sagt sie, Tränen in den Augen.

Nun kommen auch noch Lungenprobleme dazu, verursacht von dem giftigen Staub, den ihr die Druckwelle in die Lungen presste. "Es gibt ein paar ziemlich schreckliche Krebsformen bei Leuten, die an Ground Zero waren. Es wird nur schlimmer. Es ist nur eine Frage der Zeit."

Sie holt das Album mit den Hochzeitsfotos aus dem Regal. "Hier", sagt sie und zeigt auf das erste Bild, als handele es sich um Beweismaterial in einem schwierigen Fall: Strahlend umarmt sie ihren Mann. "Ich bin das einfach nicht mehr! Und wissen Sie, das ist so scheiße. Es ist nicht fair meinem Mann gegenüber. Und ich weiß nicht, wie ich es meiner Tochter erklären soll. Wie erklärt man 9/11? Wenn ich nur einen Tag in meinem Leben ändern könnte, wenn ich nur diesen Morgen ungeschehen machen könnte!"

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Quelle:
SZaW vom 10./11.09.2011/lyb
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