Süddeutsche Zeitung

"Ich konnte keinen anderen Gedanken fassen":Streifzüge ins Verhängnis

Der mutmaßliche Kindermörder Marc Hoffmann war seit Jahren auf Suche nach Opfern, und irgendwann traf er Levke und Felix - die Taten hat er gestanden, aber das Leiden anderer spürt er nicht. Von Hans Holzhaider

Von Hans Holzhaider

Stade, im Juni - Ohne jeden Zweifel ist Marc Hoffmann ein äußerst gefährlicher Mann. Er hat zwei Kinder getötet: am 6. Mai 2004 die achtjährige Levke und knapp sechs Monate später, am 31. Oktober, den ebenfalls achtjährigen Felix. Es hätte ebenso gut jedes andere Kind treffen können, und es hätte ebenso gut noch viele andere Kinder treffen können.

Im Gespräch mit dem Gerichtspsychiater Norbert Leygraf hat Marc Hoffmann die Situationen geschildert, aus denen heraus er die Taten beging: Wie er sich im Lauf des Nachmittags in sein Auto gesetzt habe und ziellos durch die Gegend gefahren sei, in dem platten Land zwischen Bremen, Hamburg und Cuxhaven; getrieben von einem übermächtigen, nahezu suchtartigen Verlangen nach sexueller Befriedigung, immer Ausschau haltend nach einem potenziellen Opfer, aber noch ohne konkreten Tatplan, wie er sich dann blitzartig, spontan entschlossen habe, als er die Kinder sah - Levke allein am Straßenrand, vor ihrem Elternhaus auf ihren Vater wartend, Felix auf dem Fahrrad, vom Spielen kommend.

Ziellose Autofahrten

Wie "dieser Drang, dieses Verlangen" ihn da gepackt hätten, diese Anspannung, diese Erregung, "wie so'n Kreis, der sich ständig dreht, da kommst du nicht weg, einfach immer weiter, weiter, weiter." Wie er dann angehalten und die Kinder "irgendwie vollgequatscht" habe, er wisse gar nicht mehr genau wie, ja, dass der Mutter irgendwas zugestoßen sei, und dann seien sie auch gleich eingestiegen, und dann sei es eben passiert. Marc Hoffmann hat Levke, nachdem er sie missbraucht hatte, mit einem Kabelbinder erdrosselt, Felix hat er mit bloßen Händen erwürgt.

Wenn das so gewesen sei, fragt der Psychiater an dieser Stelle, wenn Marc Hoffmann also sehr oft, mehrmals in der Woche, über Jahre hinweg, zu diesen ziellosen Autofahrten aufgebrochen sei, immer mit diesem diffusen Ziel, ein Opfer für seine sexuelle Gier zu finden, warum sei es dann nur zweimal zu einer solchen Tat gekommen?

Ja, räumt Hoffmann ein, er habe ja schon öfter potenzielle Opfer im Visier gehabt. "Jetzt kann man sagen, zum Glück ist es nie dazu gekommen. Weil sie dann urplötzlich auf ein Nachbargrundstück oder auf eine belebte Straße eingebogen sind oder weiß der Teufel, was sie gemacht haben." Vielleicht sei er nicht entschlossen genug gewesen. Vielleicht sei gerade ein Auto oder ein Radfahrer vorbeigekommen. Vielleicht habe er sich einfach irgendwie beobachtet gefühlt. Die Sinne, Augen und Ohren, seien ja in so einem Moment "auf hundert Prozent". So viele Vielleichts. So viele Zufälle. So viele Kinder, so viele Eltern, die nicht ahnen, wie nahe ihnen die Katastrophe gekommen ist.

Eisernes Schweigen

Im Prozess vor dem Landgericht Stade, wo Marc Hoffmann des Mordes an Levke und Felix angeklagt ist, hat er bisher kein einziges Wort gesprochen. Seine Ehefrau, seine Mutter, seine Großmutter, haben von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Was das Gericht über Marc Hoffmann weiß, beruht auf den Aussagen weniger Zeugen, auf den spärlichen Angaben, die er bei der Polizei gemacht hat, und auf dem Gutachten des Psychiaters Leygraf. Nur im Gespräch mit ihm hat Hoffmann ausführlich von sich und seinen Taten berichtet, möglicherweise bestimmt von der Absicht, den Eindruck eines psychisch schwer gestörten Menschen zu erwecken und sich so eine lebenslange Haftstrafe zu ersparen.

Hoffmann ist in einem sehr kleinen Dorf im Sauerland aufgewachsen. Er war ein Einzelkind. Seine Mutter arbeitete als Pflegerin in Krankenhäusern und Pflegeheimen, der Vater fuhr zur See, ließ sich aber, als Marc Hoffmann etwa drei Jahre alt war, zum Versandarbeiter umschulen.

Eine Nachbarin der Familie Hoffmann hat den Jungen im Grundschulalter kennen gelernt. Ihr Sohn war im gleichen Alter, "Marc war fast jeden Tag bei uns", sagt sie. "Er war ein friedliches, normales Kind. Nicht als Mörder geboren." Nur eine Besonderheit fiel ihr auf: "Er hatte Angst vor seiner Mutter. Wenn er von ihr sprach, fing er an zu stottern. Sie hatte eine sehr schrille Stimme. Wenn sie nach Marc rief, dann fiel er fast die Treppe runter vor Schreck."

Im Schatten der Mutter

Im Dorf gab es einen Fanfarenzug, da schlug Marc die Trommel. "Er durfte keinen Schritt ohne seine Mutter tun", berichtet eine heute 34-jährige Zeugin, die damals im Fanfarenzug Trompete spielte, "manche haben Witzchen gemacht, weil sich die Mutter aufgeführt hat wie ein Platzhirsch".

Auch Hoffmann selbst beschrieb dem Psychiater seine Mutter als "bestimmend" und "herrschsüchtig". "Vielleicht ist es deshalb, dass ich mich immer so unterdrückt fühle Frauen gegenüber", sagt er. "Mag sein, dass das alles so zusammenhängt." Eine bequeme Ausrede: Die dominante Mutter ist an allem schuld? Vielleicht nicht nur. "Tatsächlich dürften die durch das übermächtige Verhalten der Mutter erzeugten Gefühle von Wut, Kleinheit und Ohnmacht ein erhebliches Potenzial an aggressiven und destruktiven Impulsen geweckt haben", konstatiert Leygraf.

Materiell wurde das Kind eher verwöhnt. Alles, was er gewollt habe, habe er auch bekommen, sagt Hoffmann, und der Nachbarin gegenüber machte die Mutter einmal deutlich, dass sie ihren Sohn durchaus für etwas Besseres hielt: "Mein Marc zieht keinen Blaumann an", habe sie gesagt, als der Lehrer des Jungen andeutete, Marc solle vielleicht besser in eine Sonderschule gehen, berichtet die Nachbarin.

Die Volksschule absolvierte Hoffmann mit einigen Problemen. Wenige Wochen nach der Einschulung wird er noch einmal in die Vorschule zurückgeschickt, die sechste Klasse muss er wiederholen. Etwa seit dieser Zeit, also mit der beginnenden Pubertät, habe er massive sexuelle Phantasien entwickelt, berichtet er. Das habe sich immer weiter gesteigert. Mit 16 habe er einen Nachbarsjungen sexuell belästigt, mit 18 habe er schon zweimal erfolglos versucht, ein kleines Mädchen zu sich ins Auto zu ziehen.

Ein stolzer Schütze

Mit gleichaltrigen Mädchen habe lange nichts geklappt, er sei "kontaktscheu", sagt Hoffmann, "ich hab' Hemmungen, die anzusprechen". Mit 20 hat er die erste sexuelle Beziehung, das Mädchen wird bald schwanger und will danach nichts mehr von ihm wissen. Kurz darauf kommt er zur Bundeswehr. Während der Grundausbildung, sagt er, habe er sich "die Augen ausgeheult", aber dann gefällt es ihm ganz gut. Er hat ein Faible für Schusswaffen, er ist stolz auf die Goldene Schützenschnur.

Während seiner Dienstzeit vergewaltigt er eine 16-Jährige, die er nachts im Auto mitgenommen hat. Weil er noch nicht ganz 21 Jahre alt ist, wird er nach Jugendrecht verurteilt: Zwei Jahre Jugendstrafe, zur Bewährung ausgesetzt. "Da hat wenigstens keiner von erfahren", sagt die Zeugin Vera S., eine enge Freundin von Marcs Mutter. "Nie hab' ich darüber gesprochen. Ich hab' mir nie was anmerken lassen, dass ich davon wusste." Seine Mutter, sagt Hoffmann dem Psychiater, habe nur einen Satz zu der Angelegenheit geäußert: "Wenn du das nächste Mal poppen willst, sagste Bescheid, kriegste Geld für 'n Puff."

Aggressive Phantasien

1995, Hoffmann ist jetzt 22, zieht die Familie vom Sauerland nach Bremerhaven . Er absolviert eine Lehre als Installateur, aber das Handwerk liegt ihm nicht, er habe "zwei linke Hände". "Dieser Drang, Sex zu haben", sei da wieder hochgekommen. "Ich konnte keinen anderen Gedanken fassen." Er sei fast jeden Abend zum Straßenstrich gefahren, "Tausende" habe er dort gelassen.

Seine Phantasien hätten immer stärker aggressive Züge angenommen. Er habe sich vorgestellt, "sich einfach Sex mit Gewalt zu nehmen". Dieser Gedanke habe einfach alles andere übertrumpft. Zweimal habe er auf seinen rastlosen Autofahrten schon angetrunkene Frauen aufgelesen und versucht, sie zu vergewaltigen, aber die eine wehrte sich zu heftig, und die andere redete so lange auf ihn ein, bis er sie unverrichteter Dinge nach Hause fuhr.

Im Juni 2000 versucht er noch einmal, eine geistig zurückgebliebene junge Frau zu vergewaltigen. Aber auch sie wehrt sich so heftig, dass das Vorhaben misslingt. Die Frau erstattet Anzeige, aber bei einer Gegenüberstellung erkennt sie Hoffmann nicht wieder. Die Ermittlungen werden eingestellt.

Zu dieser Zeit hat Hoffmann schon seit mehreren Jahren eine feste Beziehung mit seiner späteren Ehefrau, die er kurz darauf heiratet. 2002 wird eine Tochter geboren. Er habe, versucht Hoffmann den Psychiater immer wieder zu überzeugen, ein Doppelleben geführt, das eine in der realen Welt seiner Familie, das andere in der Welt seiner sexuellen Phantasien, gegen die er sich nicht habe wehren können.

Das Zusammenleben mit seiner Frau habe keine Besserung gebracht, im Gegenteil: Es sei alles noch viel schlimmer geworden mit seinen Gedanken. Einmal, nach der versuchten Vergewaltigung im Jahr 2000, konsultierte Marc Hoffmann einen Psychologen, mit dem sei er übereingekommen, "dass das an meiner Mutter liegen könnte". Aber das sei dann im Sande verlaufen.

"Nachträglich betrachtet", sagt Hoffmann zum Gutachter, "ist das alles eigentlich ganz klar, wie das hätte laufen müssen. Aber vielleicht musste das alles so kommen, um wirklich jetzt zu erkennen, so, bis hierhin bist du gegangen, und jetzt ist Schluss, jetzt musst du wirklich Hilfe bekommen. Ich weiß es nicht, manchmal sagt man, es ist alles göttliche Fügung."

Die Unfähigkeit, Leid zu fühlen

Solche Gedanken hat Marc Hoffmann, der Levke und Felix entführt, missbraucht und getötet hat. Dass alles göttliche Fügung sein könnte, mit dem Ziel, ihn, Marc Hoffmann, zu der Erkenntnis zu bringen, dass er jetzt wirklich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen muss. Ob er sich wohl vorstellen könne, wie die Eltern der Opfer das empfinden müssten, fragt Leygraf seinen Probanden. "Sicher", antwortet Hoffmann, aber, wie gesagt, habe er eben in diesen zwei Welten gelebt, und da habe er versucht, die Taten wegzudrängen, und so nach und nach habe er sie vergessen, weil es ja wichtigere, aktuellere Probleme gegeben habe, die Miete, und das Einkaufen, solche Sachen eben.

Es ist, als ob Marc Hoffmann die Frage des Psychiaters nicht verstanden hätte. Möglicherweise kann er sie nicht verstehen. "Seine basale Störung", schreibt Norbert Leygraf in seinem Gutachten, "liegt in der Unfähigkeit zu spüren, was er in anderen Menschen auslöst und wie diese leiden." Und eben weil ihm diese Fähigkeit fehlt, sagt Leygraf, könne Marc Hoffmann mehr als eine halbe Stunde lang mit seinem Opfer, dem achtjährigen Felix, schweigend im Auto sitzen und darauf warten, dass es dunkel wird und er das Kind sexuell missbrauchen und töten kann.

Trauer, zu groß für Hass

"Als uns mitgeteilt wurde, dass Hoffmann der mutmaßliche Täter ist", sagte Ulrike S., die Mutter der getöteten Levke im Gerichtssaal, "da war keine Freude bei uns im Haus, nur Erleichterung, dass er keine anderen Kinder mehr töten kann. Levi bringt es uns nicht wieder. Es ist uns auch egal, wie hoch die Strafe ist. Das ist für uns keine Genugtuung."

Anja W., die Mutter von Felix, hat nicht an der Verhandlung teilgenommen. Sie wollte nicht in aller Öffentlichkeit dem Mann, der ihren Sohn getötet hat, gegenübersitzen müssen. Das Gericht hörte als Zeugen einen Kriminalbeamten, der Anja W. seit dem Verschwinden des Kindes betreut hat. Anja W. hat einen schweren seelischen und körperlichen Zusammenbruch erlitten, sie musste ihren Beruf aufgeben und sich psychiatrisch behandeln lassen. "Sie sagte, er solle seine gerechte Strafe bekommen", berichtete der Beamte, "aber sie könne auch keinen Hass empfinden. Dadurch bekomme sie Felix nicht wieder." Es ist, als ob das Übermaß an Trauer im Herzen dieser Mütter einfach keinen Raum lässt für Hass.

Aber dafür gibt es ja Bild, das zentrale deutsche Hassorgan. "Da sitzt die fette Bestie", steht über dem ersten Prozessbericht, und Reporter René E. schildert uns, wie Marc H. ("aufgedunsen, fettige Haare, Pickel im Gesicht") ihm einmal "direkt in die Augen" schaut und wie ihm "ein kalter Schauer über den Rücken läuft". Offensichtlich verblüfft registriert der Reporter: "Marc H. atmet und schwitzt wie ein Mensch" (wo er doch in Wirklichkeit eine Bestie ist).

Die Folgen zwei und drei der Bild-Berichterstattung sind überschrieben: "Sie überführte die fette Bestie" (über Vera S., die der Polizei den entscheidenden Hinweis auf Marc Hoffmann gab) und "Warum schützt der Richter die fette Bestie?" (weil das Gericht während der Vernehmung des Sachverständigen Leygraf die Öffentlichkeit teilweise ausschloss).

Wahr ist, dass die Taten Marc Hoffmanns von erschreckender Gefühlskälte und Menschenverachtung zeugen. Aber Menschenverachtung beginnt nicht erst, wenn einer Kinder umbringt. Sie beginnt dort, wo einem das Menschsein aberkannt wird. Und wenn es ein Mörder ist.

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Quelle:
SZ vom 21.06.2005
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