ICE-Unfall bei Montabaur:"Das Problem ist bekannt"

Wie ein fahrender ICE bei voller Fahrt eine Tür verlieren konnte, ist noch unklar - dabei tauchte das Problem bei Testfahrten auf. Eisenbahn-Experte Markus Hecht appelliert an die Politik.

Marten Rolff

Trotz des Verlustes einer Tür bei voller Fahrt am vergangenen Samstag dürfen die ICE-3-Züge weiterfahren. Das Eisenbahn-Bundesamt zerstreute damit Befürchtungen, es könnte zu einer Rückrufaktion dieses Zugtyps kommen. "Es gibt aktuell keine Erkenntnisse, wonach ein systematischer Fehler vorliegt", sagte Ralph Fischer, Sprecher des Eisenbahn-Bundesamtes. Derzeit suchen Experten im Betriebswerk Frankfurt-Griesheim nach der Unfallursache. Einen vergleichbaren Fall habe es seit Gründung seiner Behörde 1994 nicht gegeben. Die Deutsche Bahn kündigte an, alle Türen ihrer ICEs zu untersuchen. Als Vorsichtsmaßnahme lässt das Unternehmen ICE-Züge auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken vorerst langsamer fahren. Die SZ sprach über den Vorfall mit Markus Hecht, Professor für Schienenfahrzeuge an der TU Berlin.

Markus Hecht, oh

"Bei ersten Testfahrten sind auch schon Türen verlorengegangen", sagt Markus Hecht, Professor für Schienenfahrzeuge an der TU Berlin. Er fordert strengere Kontrollregeln von der Politik.

(Foto: Foto: oh)

SZ: Herr Hecht, warum fliegt bei voller Fahrt eine ICE-Tür heraus?

Markus Hecht: Natürlich ist die genaue Ursache für den aktuellen Fall noch nicht bekannt. Aber generell gibt es bei Tunnelfahrten extreme Druckschwankungen, vor allem bei Gegenverkehr im zweigleisigen Tunnel. Ein Grund dafür ist die plötzliche Verdrängung großer Luftmengen. Wenn nun zwei Züge aneinander vorbeifahren, sind diese Druckveränderungen kurzzeitig geradezu dramatisch, das alles spielt sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Eine Druckerhöhung ist dabei nicht weiter schlimm. Fatal auswirken kann sich eher ein massiver Druckabfall. Die Kräfte lassen sich noch aus der Zeit der alten, nicht druckdichten Zügen erahnen. Da waren im Tunnel oft plötzlich die Ohren belegt.

SZ: Und das bedeutet, man darf in bestimmten Situationen damit rechnen, dass die Türen aus dem Zug fliegen?

Hecht: Zumindest ist das Problem lange bekannt. Bei ersten Testfahrten von Hochgeschwindigkeitszügen sind daher auch schon Türen verlorengegangen.

SZ: Klingt ziemlich beunruhigend.

Hecht: Das wurde bei den druckverstärkten Zügen von einer Geschwindigkeit von 250 Stundenkilometern an zum Problem. Aber natürlich hat man die Türen mit großem Aufwand verstärkt. Man darf sich eine ICE-Tür deshalb heute als Mittelding zwischen Flugzeug- und Trambahntür vorstellen. Mit Dichtungen und Verriegelungen an vielen Stellen. Rausfliegen kann die nur wegen eines Konstruktionsmangels, was ich mir kaum vorstellen kann. Oder wegen eines Wartungsfehlers.

SZ: Aber nach der Pannenserie mit den ICE-Achsen dürfte man doch bei der Wartung besonders vorsichtig sein.

Hecht: Vielleicht wird nun mehr auf die Achsen geschaut als auf die Türverriegelung? Natürlich ist das Spekulation. Aber die Kontrolle der Achsen per Ultraschall ist sehr aufwendig. Das muss ja in drei, vier Stunden erledigt sein. Tatsache ist, dass sich die Bahn da stets unter Zeit- und Kostendruck befindet. Der Streit, wie man das löst, ob man die Wartung an teure Fremdfirmen vergibt, ist sehr alt.

SZ: Was genau könnte man denn bei der Tür übersehen haben?

Hecht: Es gibt viele Möglichkeiten. Der Bruch eines Teils. Oder womöglich ging die Mechanik bei der Verriegelung nicht. Die wiederum wird von Sensoren überwacht, die allerdings auch fehlerhafte Informationen übermitteln können. Es kommt vor bei Fahrzeugen, dass ein Sensor die Schließung einer Tür meldet, die nicht richtig verriegelt ist. Dem wird man jetzt nachgehen müssen.

Ein Einzelfall - hoffentlich

SZ: In den USA ist es Passagieren verboten, während der Fahrt an der Tür zu stehen. Weil es zu gefährlich ist?

Hecht: Das Verbot ist vor allem damit zu begründen, dass die Tür die schwächste Stelle im Zug ist. Wenn es zur Kollision kommt, dann ist es vor einer Tür also besonders gefährlich. Daher hat man nach der Katastrophe von Eschede die Notausstiegsluken in den Türen abgeschafft.

SZ: Beim deutschen ICE lassen sich die Türen wegen des Notöffnungsmechanismus auch während der Fahrt aufstemmen. Beim TGV etwa ist das nur bei Stillstand möglich. Ist das sicherer?

Hecht: Das ist Abwägungssache. Sie müssen immer fragen, für welche Situation Sie eine Vorkehrung brauchen. Stellen Sie sich einen Brand im Zug vor, und die Tür ist zwangsverriegelt. Da ist plötzlich die deutsche Tür sicherer. Eine absolute technische Sicherheit gibt es nicht.

SZ: Der ICE 3 ist ein Dauer-Sorgenkind der Bahn. Hat man bei der Entwicklung stets zu viel versprochen?

Hecht: Nein, in China fährt der ICE ja auch 380 Stundenkilometer. Und in Russland läuft er problemlos bei 50 Grad unter null. Man vergisst schnell, dass der ICE3 auch ein großes Erfolgsmodell ist. Die Mängel stimmen alle, aber ich würde die nicht dem Fahrzeugkonzept an sich oder der Industrie zuschreiben. Die Vorgaben, für welche Anforderungen ein bestimmter ICE-Typ gebaut werden soll, kommen von der Bahn und vom Eisenbahnbundesamt. Das ist auch eine Kostenfrage.

SZ: Ist die Tür denn nun ein Einzelfall?

Hecht: Das ist zumindest die Hoffnung: ein Einzelfall wegen eines Wartungsfehlers. Aber natürlich muss eine solche Situation auch beherrscht werden. Das ist absolut nicht akzeptabel. Vor allem müssen wir wieder vorausschauender werden. Es kann nicht erst darüber nachgedacht werden, nachdem der Unfall passiert ist.

SZ: Und wessen Aufgabe wäre das?

Hecht: Das ist auch eine Frage der Vorgaben. Welche Randbedingungen bekommt die Bahn da gesetzt? Wir arbeiten an 400 Stundenkilometer schnellen Zügen in einem europäischen Hochgeschwindigkeitssystem. Ich frage mich: Wo ist da das Verkehrsministerium? Ich sehe die Kompetenz der Politik auf der Straße. Aber in der Luftfahrt und auf der Schiene habe ich da meine Zweifel.

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