ICE-Katastrophe von Eschede:"Ich könnte nur noch schreien"

Zehn Jahre nach dem ICE-Unglück von Eschede sind die Wunden nicht verheilt: Gisela Angermann aus Göttingen über den Tod ihres 29-jährigen Sohnes Klaus - und ihre Wut auf die Deutsche Bahn.

Roman Grafe

"Ich bin ein bisschen erstaunt darüber, dass das nun schon zehn Jahre her sein soll. Aber mir geht's besser als vor fünf Jahren. Ist es nur Gewöhnung oder ist es Akzeptieren? Der Schmerz bleibt, er wird nur etwas schwächer. Immer wenn jemand meinem Sohn ähnlich sieht, ist es, als wenn es der 6. Juni 1998 wäre, als er für tot erklärt worden ist. Klaus war ein sehr genauer Mensch. Basteln und probieren, etwas fertigbringen und überprüfen, das war etwas für ihn.

ICE-Katastrophe von Eschede: Gedenkstätte in Eschede (Archivbild)

Gedenkstätte in Eschede (Archivbild)

(Foto: Foto: dpa)

Schweigsam war er, einer, der eine Situation in knappen Sätzen gut charakterisieren konnte. Er konnte gut tanzen, hat sehr schön fotografiert. Klaus hatte Betriebswirtschaftslehre studiert und war dann 1997 fertig mit dem Studium. Am 3. Juni '98 fuhr er mit dem ICE zum Einstellungsgespräch in einer Hamburger Firma. Er war gerade auf dem Weg, ein unabhängiges, wirklich selbstbestimmtes Leben zu führen.

Sein Reisegepäck war nicht groß, weil er am Abend wieder zurück in Göttingen sein wollte. Die Aktentasche liegt nun oben auf dem Boden in einer Plastiktüte. Ich hatte am Nachmittag des 3. Juni das Fernsehen angemacht, und da hieß es, eine Brücke sei auf einen Zug gefallen. Abends erschien meine Tochter Anette und sagte: 'Mutter setz dich. Klaus ist in dem Zug gewesen.'

Am nächsten Abend sah ich meinen Sohn in Celle im Krankenhaus wieder. Als wir ankamen, sagte die Ärztin: ,Sie müssen davon ausgehen, dass sie ihn verlieren werden.' Auf dem Fußboden sah ich seinen Anzug liegen. Klaus hatte so eine blaue Krawatte, die ich besonders gern mochte. Da war mir klar, da ist nicht mehr viel zu wollen. Anette hat mir noch erzählt, dass sogar in der Innentasche seines Anzuges Glassplitter waren.

Am 3. Juni war die Katastrophe, am 6. Juni wurde Klaus von den medizinischen Schläuchen abgelöst. Er war ja noch operiert worden, weil man hoffte, man kriegt noch was hin, weil er noch jung ist. Es war eigentlich ein schöner Sommertag. Ich hab' mich auf den Balkon gesetzt, ein Bild von Klaus geholt und eine Kerze und hab' da gesessen.

Später gab es eine Zusammenkunft in Eschede, da kam der Bahn-Chef Ludewig zu uns an den Tisch und fragte mich, ob ich noch andere Kinder habe. Ich bin wütend geworden und hab' gesagt: 'Es geht nicht um mich, ob ich noch ein Kind habe, es geht darum, dass mein Sohn nicht mehr lebt.' Nach dem Unfall war so eine Überheblichkeit bei der Bahn, so ein Wegdrücken: Also, nun handhaben wir das mal schnell.

Ich meine, es bleibt bei den Toten und allem, was damit zusammenhängt. Aber wenn ich im Nachhinein erfahre, dass dieser Unfall bei größerer Umsicht hätte vermieden werden können, dass er vorhersehbar war, da könnte ich nur noch schreien und nicht mehr aufhören. Wenn die Schnelligkeit das Wichtigste bei der Bahn ist, dann muss ich mich schämen für so eine Einrichtung in meinem Land. Und dann das Gehabe von Mehdorn! Jedes Mal, wenn er im Fernsehen zu sehen ist, mache ich meine Hand vor sein Gesicht. Ich will den nicht sehen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Gisela Angermann vom Eschede-Prozess vor dem Landgericht Lüneburg enttäuscht wurde.

"Ich könnte nur noch schreien"

Vom Eschede-Prozess vor dem Landgericht Lüneburg 2002, 2003 hatte ich Aufklärung erwartet. Ich hatte mir gewünscht, dass die für den Unfall Verantwortlichen eine Strafe bekommen, die ihnen unangenehm ist. Aber sooft ich da war, es war immer beklemmend. Es kam mir alles sehr gelenkt vor. Es war immer wieder ein Schlag, wie da mit uns Nebenklägern verfahren wurde.

"Wir waren sprachlos"

Auch dass dann das Verfahren plötzlich eingestellt wurde. Wir kamen uns sowas von hilflos vor, wir waren sprachlos. Ich konnte das nicht fassen, auch weil eine ganze Reihe Zeugen überhaupt noch nicht gehört worden war. Juristische Aufarbeitung? Das Staatsunternehmen Bahn ist geschont worden, erbarmungslos.

Dieses ganze Verfahren, besonders die abrupte Beendigung, war wie eine Ohrfeige: Es lohnt sich nicht, für euch noch weiter dazusitzen - es ist ja egal, dass da jemand draufgegangen ist. Keine Anerkennung des Wertes eines Einzelnen. Und wenn so ein Prozess so danebenläuft, erfüllt er für die Gemeinschaft und für die einzelne Person nicht das, wofür er grundsätzlich gedacht ist.

Es wäre eben ein erträglicher Abschluss des Verfahrens ganz wichtig für uns gewesen, um irgendwie besser weiterzuleben. Auch für die, die beim ICE-Unfall stark verletzt wurden und noch immer täglich, bei jedem Gang ihre Verletzungen merken. Ich dachte eigentlich, in einem ordentlichen, zuverlässigen, auch mich berücksichtigenden Staat zu leben. Das sehe ich nun ein bisschen anders.

Ja, und nun sind zehn Jahre um, dann wollen wir das mal schön feiern: ein schönes Denkmal, schöne Reden, schöne Musik. Aber die Leute bleiben tot. Die Bahn kann aufzählen, was sie nach dem Unfall alles getan hat. Eine Art Abschluss. Ich nehme an, dass die Bahn und sonstige damit Befasste denken: Jetzt haben wir das erledigt - Schwamm drüber."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: