Hurrikan "Sandy":Sechs Lehren aus der Sturmkatastrophe

Nach dem Sturm beginnt im Osten der USA der Wiederaufbau. Die Schäden könnten bis zu 50 Milliarden Dollar erreichen, dennoch herrscht Erleichterung vor: Ein Großdesaster wie bei "Katrina" blieb den USA erspart. Einmal mehr deckte eine Katastrophe jedoch Stärken und Schwächen der amerikanischen Nation auf - von den massiven Infrastrukturmängeln bis zum Geist des Anpackens.

aus "Sandy".

Während Sandy geschwächt weiter nach Norden zieht, beginnen in den betroffenen Regionen an der amerikanischen Ostküste die Aufräumarbeiten. Bei bis zu 50 Milliarden Dollar sollen Schätzungen zufolge die Gesamtschäden liegen, die der Wirbelsturm hinterlassen hat. Bis zu 50 Menschen kamen in den USA ums Leben, 22 davon alleine in New York City. "Einen Schaden wie diesen haben wir seit einer Generation nicht mehr gesehen", erklärte Andrew Cuomo, Gouverneur des Bundesstaats New York.

Weiterhin sind Medienangaben zufolge Millionen Amerikaner ohne Strom. Dennoch kehrt in vielen Regionen improvisierter Alltag ein, in vielen Städten sollen am Mittwoch die Schulen wieder öffnen. Mit JFK und Newark Liberty wollen zwei New Yorker Flughäfen den Betrieb wieder aufnehmen, Bürgermeister Michael Bloomberg will selbst die Glocke läuten, um die Wall Street wieder zu eröffnen. Die überfluteten U-Bahn-Tunnel dürften dafür sorgen, dass der öffentliche Nahverkehr noch für Wochen beeinträchtigt sein wird. Einige New Yorker Buslinien sollen wieder verkehren, allerdings sind weiterhin einige Brücken gesperrt.

Am Mittwochvormittag amerikanischer Zeit trifft US-Präsident Barack Obama im von schweren Überflutungen betroffenen Atlantic City im Bundesstaat New Jersey ein. Dort will er sich gemeinsam mit Gouverneur Chris Christie ein Bild vom Ausmaß der Zerstörung machen. Dabei wird es auch um eine erste Bilanz gehen: Wie gut waren Bürger und Behörden vorbereitet? Was muss sich ändern?

Bereits jetzt lassen sich einige Lehren aus der Sturmkatastrophe ziehen. Süddeutsche.de stellt sie vor.

Lehre 1: Die USA haben aus Katrina gelernt

"Es gibt eine Phase vor dem Sturm, eine während des Sturms und eine nach dem Sturm", sagte Ray Nagin der BBC. Er muss sich damit auskennen, war er doch Bürgermeister von New Orleans, als dort Hurrikan Katrina wütete. Nagin stellt den Behörden ein gutes Zeugnis aus. Bislang habe das Katastrophenmanagement bei Sandy viel besser funktioniert als damals bei Katrina, stellt er fest.

US OFFICIALS HOPE TO PROVE HURRICANE KATRINA DEBACLE WON'T REPEA

Plakat in New Orleans im September 2005: Gelernt aus der Flutkatastrophe.

(Foto: AFP)

Natürlich lassen sich die blanken Zahlen beider Katastrophen nicht vergleichen: Bei Sandy geht man bisher von etwa 81 Todesopfern aus (die Opfer in der Karibik mit eingerechnet), beim Hurrikan Katrina kamen im Jahr 2005 etwa 1800 Menschen ums Leben - Mängel in der Hochwasservorsorge und die geografische Lage von New Orleans trugen dazu bei, dass große Teile der Stadt damals sehr schnell überschwemmt wurden.

Dennoch ist festzustellen: Die USA haben ihre Lehren aus den Ereignissen von 2005 gezogen und in den vergangenen Tagen in und um New York mit Erfolg angewendet. Der Sturm wurde diesmal von Beginn auf allen Ebenen ernst genommen, die Bevölkerung der Ostküste umgehend über die Lage informiert. Anwohner von besonders gefährdeten Gebieten wurden frühzeitig in Sicherheit gebracht, was möglicherweise viele weitere Todesopfer verhinderte.

Wenn man dem ehemaligen Stadtoberhaupt von New Orleans glauben darf, steht den vielen Helfern und den politischen Verantwortungsträgern in der Region die schwierigste Herausforderung aber noch bevor. "Die Leute wollen nach so einem Ereignis ihre Stadt so schnell wie möglich wieder im Zustand von vor der Katastrophe sehen", erklärte Nagin. Es sei also am wichtigsten und zugleich schwierigsten, "die Erwartung und steigende Frustration der Bürger" in den Griff zu bekommen. (Matthias Kohlmaier)

Lehre 2: Amerika hat ein Infrastruktur-Problem

Die U-Bahn in New York ist durch Sandy überflutet. Das Salzwasser greift das 108 Jahre alte U-Bahn-System an. Forscher der Columbia University hatten im vergangenen Jahr in einer Studie durchgerechnet, wie lange die U-Bahn bei einem ähnlichen Hurrikan außer Betrieb sein wird. Ihre Prognose: Erst in 21 Tagen wird das U-Bahn-Netz wieder zu 90 Prozent funktionieren.

Die Katastrophe könnte ein Wachruf für die Kommunen und die Regierung in Washington sein, mehr Geld in die Infrastruktur ihrer Städte zu stecken. Die Verschuldung der Kommunen und die unversöhnlichen Positionen von Demokraten und Republikanern, wenn es um Investitionen aus Washington geht, blockierten solche Investitionen in den vergangenen Jahren. Der Think-Tank "Council on Foreign Relations" hat just einen Report zur Infrastrukturpolitik der Regierung in Washington vorgelegt. Demnach hat eine Studie die Qualität der US-Infrastruktur im Jahr 2002 weltweit noch auf dem fünften Rang gesehen - 2011 lagen die Vereinigten Staaten nur noch auf Platz 24, überholt von Ländern wie Barbados und Oman.

Hurricane Sandy Bears Down On U.S. Mid-Atlantic Coastline

Zerstörung in New Jersey: Mangelhafte Infrastruktur sorgte für große Schäden.

(Foto: AFP)

Vor allem die Grenzen des Stromnetzes kamen durch Sandy deutlich zum Vorschein. Acht Millionen Menschen im Nordosten der USA seien noch ohne Strom, meldete Bloomberg in der Nacht. Ein ehemaliger US-Energieminister sagte schon 2003: "Wir sind eine Weltmacht mit dem Stromnetz eines Entwicklungslandes."

Immer wieder erlebten in den vergangenen Jahren Teile der USA Blackouts, die Millionen im Dunkeln lassen. Das Durchschnittsalter der Kraftwerke ist 30 Jahre, das der Transformatoren sogar 42. Die meisten Leitungen sind vor mehr als 25 Jahren gebaut worden (PDF). Um dem Bedarf der kommenden 20 Jahre gerecht zu werden, müssten 300 Milliarden Dollar investiert werden, schätzen Ingenieure. Um New Yorks Netz hurrikansicher zu machen, hat der Energieversorger vor Ort erst vor wenigen Wochen geschätzt, wären mindestens 250 Millionen Dollar für wassersichere Transformatoren und höhergelegene Hochspannungsleitungen nötig. (Bastian Brinkmann)

Lehre 3: Die Amerikaner sind keine Zauderer

"Power has been restored", der Strom läuft wieder. Das ist die kurze Facebook-Nachricht von Ginny Kozlowski aus New Haven, Connecticut. So einfach ist das, das Leben geht weiter nach dem Hurrikan Sandy. Ja, die Flughäfen bleiben geschlossen, auch die Elite-Universität Yale hat alle Kurse gestrichen, Züge fahren nicht und ganze Straßen stehen unter Wasser. Aber niemand lamentiert lange herum. "Der Keller ist vollgelaufen, Teile des Dachs sind abgedeckt, es regnet und stürmt - aber wir sind nicht mehr von Notstromaggregaten abhängig und haben keine wirklich schlimmen Schäden zu beklagen", schreibt Ginny.

Die Autobahnen sind offen, erste Super- und Baumärkte öffnen ebenfalls wieder. Und nun beginnt, was so selbstverständlich ist in vielen amerikanischen Gemeinden: Man hilft sich. "Wir werden jetzt sehen, wen es in der Nachbarschaft am schlimmsten getroffen hat und dann werden wir alle anpacken", sagt sie.

So ist es im Kleinen und so ist es im Großen: Die Südspitze Manhattans steht unter Wasser, dennoch öffnet die Wall Street wieder ihre Pforten - Sandsäcke vor der Tür inklusive. Die drei Flughäfen New Yorks sind in Mitleidenschaft gezogen worden, ebenso die Airports der anderen großen Städte an der amerikanischen Nordostküste. Die U-Bahnen in der größten Stadt Amerikas fahren nicht, also setzt die Manhattan Transport Authority (MTA) kostenlose Busse ein und warnt vor Verspätung und Überfüllung. Einige Broadway-Theater haben ihre Vorstellungen abgesagt, andere spielen jedoch. "The show must go on", das Leben muss weitergehen. So ist das in Amerika. (Verena Wolff)

Hurricane Sandy aftermath

Anpacken statt verzweifeln: Reparaturarbeiten in Needham, Massachusetts.

(Foto: dpa)

Lehre 4: Sandy wirbelt den Wahlkampf durcheinander

Republican presidential nominee Romney boards his campaign plane in Vandalia

Mitt Romney am Dienstag in Ohio: Der Wahlkampf ist seit dem Sturm ein anderer.

(Foto: REUTERS)

US-Politiker werden nicht müde zu betonen, dass der Wirbelsturm nicht politisch ausgeschlachtet werden darf. Solche Plattitüden ändern aber nichts daran, dass Sandy den Wahlkampf völlig verändert hat. Ohne den Sturm würde Barack Obama jetzt in den Wechselwählerstaaten um die letzten unentschlossenen Wähler kämpfen. Doch der Präsident verzichtet darauf, er hat für den Mittwoch alle Wahlkampfauftritte abgesagt, seine Kampagne geht ohne ihn weiter. Obama konzentriert sich im Moment einzig darauf, in seiner Rolle als Commander-in-Chief und Krisenmanager keine Fehler zu machen.

Viele Amerikaner stellen sich angesichts der Katastrophe die Frage, ob eine zentrale Rolle des Staates in einigen Feldern wirklich so schädlich ist, wie die Republikaner propagieren. Braucht man nicht doch eine Regierung, die aktiv ist, die eingreift - und dafür auch Macht und Mittel hat? Obama kann bei dieser Diskussion viel gewinnen. Die Zivilschutzbehörde Fema zum Beispiel hatte er aufgewertet. Romney dagegen erklärte im Wahlkampf, er würde die Behörde gerne schrumpfen. Wenn er jetzt nach der Fema gefragt wird, verweigert er die Antwort.

Romney weiß: Er kann im Moment kaum etwas gewinnen - aber alles verlieren. Denn falls Obama und die Regierung beim Krisenmanagement nicht versagen - und danach sieht es im Moment aus -, könnte ein so tragisches Ereignis wie der Hurrikan dem Präsidenten am Ende die entscheidenden Stimmen bringen. (Sebastian Gierke)

Lehre 5: Man diskutiert wieder leise über den Klimawandel

Seit Hurrikan Sandy zur Bedrohung für die Ostküste der USA wurde, haben sich auch in Amerika wieder Stimmen erhoben, die auf einen möglichen Zusammenhang solcher Stürme mit dem Klimawandel hinweisen.

Schließlich ist die Temperatur der Atmosphäre seit der Industriellen Revolution gestiegen, die Meere sind wärmer, die Luft ist feuchter, das Grönlandeis schmilzt stärker als je zuvor, der Meeresspiegel steigt. Und solche Faktoren haben natürlich einen Einfluss auf das Wetter insgesamt. Vermutlich auch auf die Entwicklung von Wirbelstürmen - und ihre Zerstörungskraft. Mit anderen Worten: Hurrikan Sandy und der Klimawandel könnten durchaus zusammenhängen.

Auf der anderen Seite wissen Klimaforscher, dass ein einzelner extremer Sturm nicht zum Beweis taugt. So hat der Weltklimarat IPCC im vergangenen Jahr berichtet, dass tropische Wirbelstürme in einigen Regionen zwar heftiger werden könnten - dass es jedoch bislang kaum Belege dafür gibt, dass der Mensch sie derzeit schon beeinflusst. Sandy passt demnach in das Szenario der Klimaforscher, die eine Zunahme extremer Wetterereignisse erwarten. Der Sturm selbst ist jedoch nur einer mehr, den die Wissenschaftler in ihren Analysen berücksichtigen.

Immerhin hat Sandy aber dazu geführt, dass über den Klimawandel und seine Folgen in den USA überhaupt wieder gesprochen wird. Das war während des Präsidentschaftswahlkampfes in den USA bislang so gut wie nicht der Fall. Weder Amtsinhaber Barack Obama noch Herausforderer Mitt Romney hatten offenbar viel Hoffnung, dass sich mit dem Thema Wählerstimmen gewinnen lassen.

Zwar hatten beide im September auf der Homepage von Sciencedebate.org erklärt, der Klimawandel sei Realität und zum Teil vom Menschen verursacht. Obama hatte sich in der Vergangenheit auch deutlicher für Maßnahmen engagiert, die die Kohlendioxidemission senken sollen. Im Wahlkampf erwähnte er aber nur hin und wieder die Vorteile alternativer Energiequellen. Romney erklärte dem Sender NBC dagegen sogar, er sei nicht angetreten, "um den Anstieg des Meeresspiegels zu bremsen oder den Planeten zu heilen".

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Sandy am 28. Oktober auf einem Satellitenbild: Zarte Debatten über die Lage des Weltklimas.

(Foto: AFP)

Vergangenen Freitag, als Sandy schon nahte, äußerte sich Obama in einem Interview mit dem Sender MTV dazu - weil er danach gefragt wurde. Der Präsident zeigte sich selbst "überrascht" davon, dass die Erderwärmung in den Wahlkampagnen keine Rolle gespielt hatte. Nun betonte er, dass die Sache "äußerst wichtig" sei.

Inzwischen sieht auch die Mehrheit der US-Bevölkerung dies so. Wie eine Umfrage der Yale University und der George Mason University in Virginia zeigt, finden 72 Prozent, dass der Präsident und der Kongress das Thema wichtig nehmen sollten. 2010 waren dies noch 57 Prozent gewesen. 70 Prozent sind dafür, dass die Industrie mehr tun sollte, und zwei Drittel sahen hier die Bürger selbst in der Pflicht. Eine große Klimawandel-Debatte wird Sandy nicht auslösen - doch ins amerikanische Bewusstsein geholt hat der Sturm das Thema allemal. (Markus C. Schulte von Drach)

Lehre 6: Stromausfälle treffen uns härter

People line up to buy food from a cart in the aftermath of Hurricane Sandy in New York

New York blinkt, aber nicht überall: Stromausfälle zeigen die Verwundbarkeit des modernen Menschen.

(Foto: REUTERS)

Während Hurrikan Sandy Stromleitungen kappte und Datencenter überflutete, stellten Millionen von Smartphone-Usern an der amerikanischen Ostküste fest: Nichts geht mehr. Für viele ist das Handy inzwischen das Fenster zu Welt. Man benutzt es zum Telefonieren, SMS-schreiben, Mailen, für Facebook, Twitter, für Informationen und Entertainment, zum Fotografieren und zum Spielen. Doch wer all das auch während eines Stromausfalls macht, hat innerhalb weniger Stunden keinen Akku mehr.

Das Festnetztelefon hängt auch am Strom. Auch das Tablet, der Laptop und der Heim-PC. Der Fernseher, der Kühlschrank, der Herd. Die Kaffeemaschine, die Kamera, der Toaster. Die Liste ist lang. Der moderne Mensch ist ohne Strom kaum handlungsfähig. Eine Binsenweisheit eigentlich, doch gerade für die als so fortschrittlich geltenden New Yorker durchaus eine neue Erfahrung.

Nicht nur an der Ostküste spürte man die Folgen des Stromausfalls: Da ein Datencenter in Manhattan überflutet wurde, gingen bekannte Dienste wie Buzzfeed, Gawker und zwischenzeitlich sogar die Huffington Post offline. Wer seine Daten in der Cloud oder auf virtuellen Festplatten gesichert hatte, überlegte schnell, ob er nicht besser wieder auf physische Speichermöglichkeiten zurückgreifen sollte.

Für manchen Amerikaner bedeutete der Energieengpass eine Rückkehr in längst vergangene Zeiten. Wer wegen Sandy tatsächlich länger ohne Strom war, lernte bestimmte Dinge wieder zu schätzen - zum Beispiel gedruckte Infobroschüren oder batteriebetriebene Taschenlampen. (Barbara Vorsamer)

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