Hurrikan "Matthew":Blauhelmsoldaten gegen Haitianer

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Haitianer zerren verzweifelt an einem Sack Reis. Bisher kommt nur wenig internationale Hilfe in dem Inselstaat an, es fehlt an Nahrungsmitteln, Medikamenten und sauberem Trinkwasser. (Foto: Andres Martinez Casares/Reuters)
  • Mehr als 2,1 Millionen Haitianer sind unmittelbar von den Folgen des Wirbelsturms Matthew betroffen. Es fehlt an Nahrungsmitteln, Medikamenten und sauberem Trinkwasser.
  • Die Vereinten Nationen hatten die internationale Gemeinschaft um 120 Millionen Dollar Nothilfe gebeten. Bisher kamen allerdings nur zwölf Prozent der Summe zusammen.
  • Mit Matthew hat sich die Cholera-Gefahr in Haiti noch einmal deutlich verschärft.

Von Boris Herrmann

Sie sollten Nahrung, Medikamente und Trinkwasser bringen, doch zunächst einmal schossen sie mit Tränengas. Beklemmende Bilder sind dabei entstanden, Helfer gegen Hilfsbedürftige, UN-Blauhelmsoldaten gegen aufgebrachte Haitianer, die seit 14 Tagen vergeblich auf Unterstützung warten. In der Stadt Les Cayes wurden Straßenblockaden errichtet, um Hilfskonvois aufzuhalten, die in umliegende Dörfer aufbrechen wollten. Ein paar Lastwagen mit Notpaketen, viel zu wenig für alle.

"Man muss die Leute verstehen, sie sind absolut verzweifelt", sagt Jürgen Schübelin, der Referatsleiter der Kindernothilfe für Lateinamerika und die Karibik. An der Südküste Haitis gibt es nach seiner Darstellung auf der gesamten Strecke von Les Cayes nach Port-à-Piment nichts mehr zu essen. 60 Kilometer Chaos, Hunger und Tod. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt der Apokalypse, die der Hurrikan Matthew in der Nacht auf den 4. Oktober brachte.

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(Foto: Andres Martinez Casares/Reuters)

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sind mehr als 2,1 Millionen Haitianer unmittelbar von den Folgen des Wirbelsturms betroffen.750 000 Haitianer benötigten dringend humanitäre Hilfe.

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(Foto: Carlos Garcia Rawlins/Reuters)

Menschen in Haiti warten auf die Entladung eines niederländischen Schiffes mit Hilfsgütern. Das Land ist schwer getroffen von Hurrikan "Matthew".

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(Foto: Andres Martinez Casares/Reuters)

Aufgrund der starken Beschädigung der Infrastruktur im Südwesten von Haiti gelangen Lebensmittel, Wasser und Hygieneartikel nur langsam zu den Menschen, einige Orte sind nur per Boot oder Helikopter zu erreichen.

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(Foto: Carlos Garcia Rawlins/Reuters)

Vor allem aus der internationalen Gemeinschaft lässt Hilfe noch auf sich warten.

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(Foto: Andres Martinez Casares/Reuters)

Manche Bewohner nehmen es dennoch gelassen.

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(Foto: Hector Retamal/AFP)

Die Cholera war schon in Haiti, bevor der Wirbelsturm kam. Mit Matthew hat sich die Gefahr noch einmal deutlich verschärft.

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(Foto: Andres Martinez Casares/Reuters)

Die UN geben zu, dass sie für den Ausbruch der Epidemie "mitverantwortlich" sind. Das erklärt die weit verbreiteten Vorbehalte gegen Blauhelmsoldaten.

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(Foto: Andres Martinez Casares/Reuters)

Der arme Karibikstaat hat sich noch immer nicht von den Folgen des Erdbebens des Jahres 2010 erholt, weshalb die erneute Naturkatastrophe die Menschen dort besonders hart trifft.

Dort, wo punktuell Hilfe ankommt, herrscht das Recht des Stärkeren. "Soldaten und Polizisten gucken zu, wie sich die Menschen um etwas Essbares prügeln", berichtet der Augenzeuge Schübelin. Er hat in seinem Leben schon viele Katastrophengebiete gesehen, keines war aus seiner Sicht vergleichbar mit dem, was sich aktuell im Süden Haitis abspielt. Nicht einmal das große Erdbeben, das Haiti vor sechs Jahren heimsuchte, als 300 000 Menschen starben und mehr als 1,5 Millionen obdachlos wurden. "Die Zerstörung ist diesmal viel großflächiger", sagt Schübelin, "die Not unermesslich." Diesmal hat es vor allem die Peripherie der Peripherie getroffen und nicht wie damals die Hauptstadt Port-au-Prince. Fernab der Kameras spielt sich dieses Drama ab. Vielleicht ist das ein Grund, weshalb Haitis akute Notlage im Rest der Welt immer noch unterschätzt wird.

In Haiti gibt es ein massives Korruptionsproblem

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sind mehr als 2,1 Millionen Haitianer unmittelbar von den Folgen des Wirbelsturms betroffen. 750 000 benötigten dringend humanitäre Hilfe. Die lässt allerdings auf sich warten. Darüber klagte auch UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon nach einem Besuch am vergangenen Wochenende. Die Vereinten Nationen hatten die internationale Gemeinschaft um 120 Millionen Dollar Nothilfe gebeten. Bisher kamen zwölf Prozent der Summe zusammen.

Das liegt gewiss auch an Haitis Übergangsregierung um Präsident Jocelerme Privert: Niemand glaubt, dass man den Bedürftigen hilft, wenn man dessen Staatsapparat finanziell unterstützt. In Haiti gibt es ein massives Korruptionsproblem, das in dieser Situation fatale Auswirkungen hat. Das Land scheitert schon seit Jahren daran, überhaupt eine ordnungsgemäße Präsidentschaftswahl durchzuführen. Auch die für den vergangenen Sonntag angesetzte Abstimmung wurde wieder einmal verschoben. Diesmal wegen des Hurrikans. Aber irgendeinen Grund gibt es immer.

Auch zwei Wochen nach Matthew kann man über die Zahl der Todesopfer nur spekulieren

Was es so gut wie nie gibt in Haiti: Aussicht auf Besserung. Die Übergangsregierung hatte zunächst versucht, das ganze Ausmaß der Zerstörung durch Matthew systematisch herunterzuspielen. Von "vereinzelten lokalen Schäden" war die Rede. Auch zwei Wochen danach kann man über die Zahl der Todesopfer nur spekulieren. Privert spricht von 450 Toten, UN-Beobachter glauben, dass es mindestens doppelt so viele sind. Eine Gruppe von Journalisten, die alle Bürgermeister Haitis abtelefonierten, hat mehr als tausend Tote addiert. Noch kann aber niemand seriös sagen, wie nahe das der Wahrheit kommt. Viele entlegene Orte im Süden und Westen des Landes sind weiterhin von der Außenwelt abgeschnitten.

Große Teile dieser Außenwelt verfolgten Anfang Oktober live im Fernsehen, wie Matthew auf Florida, die Bahamas und Haiti zusteuerte, bloß die meisten Haitianer in den am stärksten betroffenen Gebieten haben das Unheil nicht kommen sehen - weil sie keinen Fernseher, keinen Strom, keinen Handyempfang haben und schon gar kein Frühwarnsystem. Alle wussten, dass sie untergehen würden, außer sie selbst.

Von einer kleptokratischen Clique regiert, von der sogenannten Weltgemeinschaft vergessen, das ist Haiti. Kein funktionsfähiger Staat, sondern die heillos überbevölkerte Hälfte der Insel Hispaniola, die sich im täglichen Ausnahmezustand befindet. Hier herrscht seit eh und je eine fatale Mischung aus Armut, Gleichgültigkeit, Inkompetenz, Filz, Gewalt. Jede Naturkatastrophe schlägt da mit besonderer Härte zu.

Die Hälfte der Bevölkerung hat kein Trinkwasser, zwei Drittel haben keine richtige Toilette

Die Cholera war schon da, bevor der Wirbelsturm kam. Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die tödliche Krankheit vor fünf Jahren von einer UN-Gruppe aus Nepal eingeschleppt wurde, die eigentlich gekommen war, um beim Wiederaufbau nach dem verheerenden Erdbeben zu helfen. Auf diesen Wiederaufbau wartet Haiti bis heute, die Cholera aber hat seither fast 10 000 Todesopfer gefordert.

Die Vereinten Nationen haben erst vor wenigen Monaten eingeräumt, dass sie für den Ausbruch der Epidemie "mitverantwortlich" sind. Auch das erklärt die weit verbreiteten Vorbehalte gegen Blauhelmsoldaten. Mit Matthew hat sich die Cholera-Gefahr noch einmal deutlich verschärft. Ein Team der WHO zählte im Süden Haitis binnen vier Tagen 477 Verdachtsfälle. Die Organisation Ärzte der Welt schätzt, dass die Zahl bis zum Ende des Jahres auf 50 000 steigen könnte.

Nahezu nirgends auf der Welt hat es diese Krankheit so leicht wie im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre, wo die Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang zu Trinkwasser hat und mehr als zwei Drittel keine menschenwürdigen Toiletten kennen. Die WHO schickt eine Million Dosen Cholera-Impfstoff nach Haiti, aber Ärzte erwarteten ein Wettrennen gegen die Zeit. Wenn demnächst die Regenzeit beginnt, laufen die Latrinen schneller über, als geimpft werden kann.

© SZ vom 19.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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