Holocaust-Gedenktag:Ihre Spuren bleiben

Die jüdische Unternehmerfamilie Hallenstein verschwand 1938 spurlos aus ihrer Heimatstadt Krempe. Das Geheimnis ihres Schicksals kommt erst spät ans Licht.

Mit ihrem jüdischen Familienunternehmen brachten die Brüder Henry und Harold Hallenstein die Industrialisierung in die kleinste Stadt Schleswig-Holsteins. 200 Arbeiter beschäftigte die Unternehmerfamilie in ihren Glanzzeiten und sorgte damit für einen bescheidenen Wohlstand in der landwirtschaftlich geprägten Region.

Holocaust-Gedenktag: Hinten von links: Martin Spiering (17), Swantje Steenbock (18), Carina Friedberg (19), Jaqueline Köhler (17), Laura Pomarius (17) und Frederike Schröpfer (17); vorne: Eva Fox (18), Lena Horn (17), Janika Frunder (18) und Sonja Warkulat (17)

Hinten von links: Martin Spiering (17), Swantje Steenbock (18), Carina Friedberg (19), Jaqueline Köhler (17), Laura Pomarius (17) und Frederike Schröpfer (17); vorne: Eva Fox (18), Lena Horn (17), Janika Frunder (18) und Sonja Warkulat (17)

(Foto: Foto: Step21)

"Die Hallensteins sind fortschrittliche Unternehmer gewesen. Sie haben die Arbeiter ihrer Fabrik immer unterstützt", erinnert sich Eleonore Hesse. Die heute 84-Jährige betrieb jahrzehntelang die Kremper Spirituosen- und Weinhandlung, die ihr Schwiegervater 1895 gegründet hatte.

Durch die vielen Gespräche in ihrem Geschäft war sie immer gut über die Bewohner und Ereignisse des Ortes informiert. Die Familie Hallenstein sei in der Stadt beliebt gewesen, habe sich nicht nur sozial, sondern auch finanziell für das Gemeindewohl engagiert. So gründeten die Unternehmer eine Werkskapelle für ihre Arbeiter und richteten eine Werksfeuerwehr ein. Auch die Stadt Krempe habe von der Großzügigkeit der Hallensteins profitiert, erzählt Eleonore Hesse.

Während der Wirtschaftsdepression der 20er und 30er Jahre hätten sie kostenlos Nahrungsmittel für Arme und Arbeitslose zur Verfügung gestellt. An Weihnachten und anderen Feiertagen ließen sie dem Altersheim Geld und andere Geschenke zukommen. Kurz: In ganz Krempe habe die Familie Hallenstein Ansehen genossen.

Beliebt und plötzlich "verschwunden"

Die Erinnerungen unserer zweiten Interviewpartnerin, der 1919 geborenen Kremperin Hertha Bolten, klingen ähnlich: "Das waren nette, zuvorkommende, einfache Mitbürger." Ihr verstorbener Mann Harald war ein Schulfreund von Rolf, dem jüngsten der drei Söhne von Harold Hallenstein. Auf den Kremper Straßen hatten sie schon als Kinder gemeinsam gespielt. Doch diese Freundschaft fand ein jähes Ende.

Während seiner Gerberlehre in Nürnberg wurde Rolf 1936 wegen angeblicher "Rassenschande" zu zwölf Monaten Zuchthaus in Amberg verurteilt. Während dieser Haft musste der 24-Jährige in einem Steinbruch Schwerstarbeit leisten. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Krempe zurück, doch wollte er Deutschland so schnell wie möglich verlassen. Noch im Juni 1937 floh er nach England, wo sein jüngerer Bruder Erik bereits seit 1928 lebte.

Rolf Hallensteins qualvolle Erfahrungen führten seiner jüdischen Familie vor Augen, wie sehr ihr Leben in Deutschland bedroht war. Die antisemitische Politik und der Rassenwahn der Nationalsozialisten gefährdete auch sie. Ihre Heimatstadt Krempe zu verlassen, schien ihnen die einzige Lösung.

Noch bevor die Enteignung von jüdischen Besitztümern offizielle Politik wurde, entschloss sich die Familie im Juli 1938 gezwungenermaßen zum "Verkauf" ihres gesamten Besitzes. Neben den Lederwerken gehörten dazu eine Villa und drei weitere Häusern.

Der Hamburger Fellhändler Wilhelm Meyenburg übernahm das gesamte Eigentum der Hallensteins und betrieb die Lederfabrik bis 1968. Da die Hallensteins in einer aussichtslosen Zwangslage waren, ist anzunehmen, dass Meyenburg die Fabrik weit unter Wert erwerben konnte. Genaue Fakten über den Verkauf sind aber bis heute nicht bekannt.

Trotz der großen Bedeutung der Firma sowie ihrer Betreiberfamilie für die gesamte Region finden sich in der Kremper Zeitung vom 27. und 30. Juli 1938 nur zwei kurze Meldungen unter der Rubrik Lokales. Von einem Wechsel des Besitzers und des Führungspersonals wird berichtet, doch die Hintergründe des Verkaufs und der Verbleib der Familie Hallenstein werden nicht erwähnt.

Zwei Monate nach dem "Verkauf" im September 1938 holte Rolfs ältester Bruder Ernest die letzten benötigten Papiere vom Itzehoer Landratsamt ab. Zusammen mit seiner Mutter Hilda - der Vater Harold war bereits 1922 verstorben - und seiner Großmutter Julia kehrte er Krempe für immer den Rücken. In der Wahrnehmung der zurückgebliebenen Bürger schien es, als "verschwanden" die bekannten Gemeindemitglieder plötzlich.

Späte Ehrung für die Hallensteins

Die Flucht der Hallensteins kam auch für Hertha Bolten überraschend. Ihr Verschwinden erschütterte sie sehr. "Niemand wusste, was mit ihnen passiert war", sagt sie. Daher habe es auch keiner gewagt, über sie zu sprechen. "Aber für Krempe und nicht zuletzt für die Lederfabrik war die Emigration der Familie ein großer Verlust", meint Hertha Bolten.

Da nach 1938 kein Lebenszeichen der jüdischen Familie nach Krempe gelangte, gingen Hertha und Harald Bolten davon aus, dass die "Familie nicht zurückkehren würde". Bis 1972: Plötzlich stand Rolf Hallenstein unangekündigt vor ihrer Tür - für Hertha Bolten ein ergreifender Augenblick. Erst jetzt erfuhren sie und ihr Mann, der als angesehener Heimatforscher auch die lokale NS-Zeit aufarbeitete, von der Flucht der Hallensteins über England nach Australien.

Erst 50 Jahre nach ihrer erzwungenen Emigration, als schon Gras über die "Kremper Lederwerke" gewachsen war, erinnerte sich die Kleinstadt auch offiziell an das Schicksal der jüdischen Familie. 1988 wurde Rolf und Ernest Hallenstein die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen.

Auch wenn heute von den ehemaligen Besitztümern der Hallensteins nur noch die Villa steht, ihre Spuren bleiben unübersehbar. Es gibt den Hallensteinweg, die aus dem Werksorchester hervorgegangene Stadtkapelle und nicht zuletzt die Erinnerung der Kremper an ihre ehemaligen Mitbürger.

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