Holocaust-Gedenktag:Das Begräbnis einer Hyäne

Über den Tod des Mörders von Prag, Reinhard Heydrich, und was die Prager wirklich über seine Beisetzung in Berlin dachten.

Am Vormittag des 27. Mai 1942 hört man an der Straßenecke V Holešovičkách eine laute Explosion. Es ist 10:35 Uhr, als der stellvertretende Reichsprotektor und SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich diesen Ort passiert. Wie jeden Tag ist er unterwegs zu seinem Amtssitz auf der Prager Burg. An diesem Tag ist alles anders.

Holocaust-Gedenktag: Step 21-Team Prag, von links: Lukáš Boček (18), Anna Brabcová (17) und Aneta Smutná (17)

Step 21-Team Prag, von links: Lukáš Boček (18), Anna Brabcová (17) und Aneta Smutná (17)

(Foto: Foto: Step21)

Der tschechoslowakische Widerstandskämpfer Josef Gabčík will eine Salve von Schüssen auf den Reichsprotektor abfeuern. Seine Maschinenpistole versagt. Aber die Handgranate des zweiten Attentäters, Jan Kubiš, trifft Heydrichs Wagen. Zur gleichen Zeit sonnt sich die 29-jährige Ärztin Natálie Šonská auf ihrem Balkon im Prager Viertel Bulovka.

Der Pförtner ruft, auf Heydrich sei ein Attentat verübt worden. "Ich ging raus, um zu sehen, was los war", erinnert sich die heute 94-Jährige, die damals am Krankenhaus Na Bulovce angestellt war. "Nach dem Anschlag kam Heydrich in unsere chirurgische Abteilung, die sofort gesperrt wurde. Der Reichsprotektor forderte extra einen deutschen Arzt aus Wien an. Wir durften nicht einmal den Gang betreten, der zur Chirurgie führte."

Die tschechischen Bürger erfahren vom Attentat am nächsten Tag aus den Zeitungen. Die Blätter Lidové noviny (Die Volkszeitung), Národní politika (Nationale Politik), Polední list (Das Mittagsblatt), Pražský večer (Prager Abendblatt) und České slovo (Tschechisches Wort) berichten nahezu identisch. Abgedruckt wird der Erlass zur Verhängung des Ausnahmezustands von Karl Hermann Frank, Staatssekretär im Amt des Reichsprotektors.

Weiter lesen die Prager, dass "10.000.000 Kronen Belohnung für Hinweise [ausgeschrieben sind], die zur Festnahme der Täter führen." Die Zeitungen drucken Fotos von Beweismitteln, die Gabčík und Kubiš am Tatort zurück gelassen hatten. Die deutschen Besatzer wollen die beiden Attentäter unter allen Umständen und so schnell wie möglich fassen. Die Zeitungen bringen erste Listen hingerichteter Personen, die angeblich am Attentat beteiligt waren.

Meldungen über die Hingerichteten

Während die zensierte Protektoratpresse tagtäglich Nachrichten über die vermeintlichen Mörder bringt, "die ein abschreckendes und hinterhältiges Verbrechen begangen hatten", erscheint am 30. Mai im Exilwochenblatt des tschechoslowakischen Widerstands in London, dem Čechoslovák (Der Tschechoslowake), ein Bericht über die "tschechoslowakischen Patrioten, die ein Attentat auf den Massenmörder verübten".

Um der unter den Folgen des Attentats leidenden Bevölkerung Mut zu machen, schreibt der Čechoslovák: "Die auf den Reichprotektor abgefeuerten Schüsse dementieren auf eine dramatische Weise alle deutschen Fabeln darüber, dass sich das tschechische Volk seinem Schicksal ergeben und sich nach Heydrichs blutiger Lektion zur freiwilligen Kollaboration entschlossen hat.

Es widerlegt alle deutschen Behauptungen, das tschechische Volk habe sich freiwillig dem Deutschen Reich angeschlossen und sehe in ihm seine einzige Zukunft."

Die nationalsozialistische Propaganda zielt auf die Einschüchterung der Bevölkerung ab und verbreitet im Rundfunk Angaben zu den Hingerichteten. Natálie Šonská erinnert sich: "Jeden Tag meldeten die Lautsprecher: Wegen ,Gutheißung des Attentats' wurden hingerichtet..., und dann immer: erstens, zweitens, bis zehntens."

Weiter erzählt sie: "Einmal sah ich auf dem Weg in das Krankenhaus Na Bulovce einen offenen LKW, in dem Verurteilte zur Hinrichtung auf den Schießplatz in Kobylisy transportiert wurden. Die Häftlinge saßen dort zusammengequetscht, ein schrecklicher Anblick. Aber das Schrecklichste waren die Meldungen und Zeitungsberichte über die Hingerichteten. Jeden Tag bekannte Namen, Menschen aus dem Kulturleben, auch unser Schulleiter..."

Die deutschen Besatzer wollen keine Schwäche zeigen und verhalten sich weiterhin, als hätten sie alles unter Kontrolle. Viele Tschechen spüren zwar die Nervosität der Deutschen, schrecken aber vor einem Massenaufstand zurück.

Um an unzensierte Informationen zu gelangen, hören sie den verbotenen ausländischen Rundfunk. Im Londoner Exil bemüht man sich darum, den tschechischen Widerstand im Protektorat zu stärken und hofft, dass die Bevölkerung ihrer Heimat dem Druck des Nazi-Regimes Stand hält und sich nicht auf die deutsche Seite schlägt.

"Besser zehn tote Tschechen, als ein beleidigter oder verletzter Deutsche"

Durch den Tod Heydrichs am 4. Juni 1942 nimmt das Geschehen einen neuen Verlauf. Zunächst überwiegt bei den Tschechen klammheimliche Freude. Dann aber wird die Frage aufgeworfen, ob das verübte Attentat die Sache wert war, kamen doch bei den schrecklichen Vergeltungsmaßnahmen der Deutschen unzählige Unschuldige ums Leben.

Da die Fahndung nach den Attentätern erfolglos bleibt, beschließt die nationalsozialistische Führung weitere Abschreckungsmaßnahmen: Am 10. Juni wird das Dorf Lidice bei Prag in Brand gesteckt und dem Erdboden gleich gemacht. Alle männlichen Einwohner über 16 Jahre werden erschossen, die Frauen in Konzentrationslager gebracht, die Kinder verschleppt.

Ähnlich wüten die Deutschen in den Gemeinden Ležáky und Javoříčko. Der Befehl von Staatssekretär Frank erlaubt das Morden auch ohne vorheriges Urteil: "Ich befehle, im Dienst und auch außerhalb beim geringsten Verdacht eines Angriffs seitens der Tschechen oder beim geringsten Widerstand während der Festnahme die sofortige Nutzung von Schusswaffen. Besser zehn tote Tschechen, als ein beleidigter oder verletzter Deutscher".

Zeremonie voll von Lügen, Heuchelei und Angst

Der Tod des Reichsprotektors füllt die tschechischen Zeitungen. Die Schlagzeile der České slovo (Tschechisches Wort) vom 5. Juni lautet: "Prag unter Trauerflaggen und -fahnen. Die Herzen aller aufrichtigen Tschechen sind von Trauer erfüllt." Weiter schreibt das Blatt, dass "ganz Prag Blumen an den Sarg legte." Fotos belegen die zahlreiche Teilnahme von Pragern an der inszenierten Trauerfeier.

"Freiwillig ging bestimmt keiner zu der Trauerfeier", betont allerdings Natálie Šonská. "Es herrschte einfach große Panik und Furcht vor den Deutschen!" Angesichts der politischen Situation im Land ist offensichtlich, dass Journalisten keine freie Hand hatten und auf Befehl der deutschen Besatzer schreiben mussten.

Das Exilblatt Čechoslovák (Der Tschechoslowake) dagegen beschäftigt sich nicht mit der Trauerfeier in Prag. Kommentiert wird unter dem Titel "Begräbnis einer Hyäne in Berlin" umso schärfer Heydrichs Beisetzung auf dem Berliner Invalidenfriedhof: "Am 9. Juni fand eine Zeremonie voll von Lügen, Heuchelei und Angst statt. Die nationalsozialistischen Würdenträger, umgeben von den treuesten SS-Offizieren, verabschiedeten sich offiziell und mit dem gewöhnlichen nazistischen Pomp [...] von dem regungslosen Leichnam des Mörders Reinhard Heydrich."

Der Unterschied zwischen der Berichterstattung im Protektorat Böhmen und Mähren und im Londoner Exil ist eklatant. Aber auch die Exil-Presse berichtet nicht objektiv - was es fast unmöglich macht, in den damaligen Zeitungen verlässliche Informationen und historische Tatsachen zu finden.

Der Text ist entstanden im Rahmen des Projektes "Weiße Flecken" der Organisation "Step21 - Initiative für Toleranz und Verantwortung". Anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar haben Schülergruppen aus Deutschland, Polen und Tschechien, Geschichten aus der NS-Zeit gefunden und aufgeschrieben, die in ihren Heimatgemeinden von der damaligen Presse totgeschwiegen oder falsch dargestellt wurden. Die zugehörige Zeitung kann über die Homepage von Step21 bestellt werden.

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