Süddeutsche Zeitung

Högel-Prozess:"Ich glaube ihm nicht, dass ihm das leidtut"

Lesezeit: 4 min

Von Annette Ramelsberger, Oldenburg

Er ist angeklagt, 100 Menschen getötet zu haben. Er hat 43 Morde zugegeben. Er hat berichtet, wie er es getan hat: am Krankenbett, nachts, aber auch dann, wenn nebenan Visite war. Der Krankenpfleger Niels Högel hat Patienten der Krankenhäuser in Oldenburg und Delmenhorst immer wieder Gift gespritzt, so dass ihr Herz aufhörte zu schlagen. Deswegen steht er vor Gericht. Jetzt, am Ende eines langen Prozesses, wendet sich dieser Mann an die Angehörigen der Opfer im Gerichtssaal. Er sagt: "Ich appelliere an Sie, nicht das Vertrauen in die Arbeit von Ärzten, Schwestern und Pflegern zu verlieren, die jeden Tag alles tun, um Ihnen zu helfen."

Niels Högel ist nicht unbedingt der beste Gewährsmann dafür, dass diese Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen geschieht. Zumindest eines kann man zum Ende dieses Prozesses sagen: Als Werbeträger für die gute Arbeit in Krankenhäusern eignet er sich nicht.

Högel spricht an diesem 23. Verhandlungstag vor dem Landgericht Oldenburg seine letzten Worte in diesem Verfahren gegen ihn. Er räuspert sich kurz. Dann liest er von einem Blatt: Ihm sei ganz deutlich geworden, "wieviel unfassbares Leid ich durch meine schlechten Taten verursacht habe." Er habe für schreckliche Trauer gesorgt und "unzähligen Menschen das Wertvollste, das Leben genommen, aus Motiven, die für mich nicht mehr nachvollziehbar sind".

Der Prozess habe ihn berührt, er habe sich nicht in einem besseren Licht darstellen wollen und seine Emotionen, so sie vorhanden sind, seien nicht gespielt. Diese Einschränkung macht er selbst, denn viele Emotionen waren bei ihm nicht zu erkennen. Falls die Angehörigen diesen Eindruck hätten, tue ihm das leid. Und dann entschuldigt er sich bei den Opfern, ihren Familien, ihren Arbeitskollegen und Freunden - aber auch bei seiner eigenen Familie. "Bei jedem Einzelnen möchte ich mich für all das, was ich Ihnen angetan habe, entschuldigen. Ich wünsche mir für Sie alle, dass Sie ihren verdienten Frieden finden."

Allein, diese Entschuldigung kommt nicht an. Die Familien der Opfer starren ihn an, wortlos. Sie treten vor die Tür der Weser-Ems-Hallen, in denen dieser Mammutprozess tagt. Die Tochter eines Mordopfers sagt: "Er ist ein Massenmörder. Ich würde ihm am liebsten an die Gurgel gehen." Ihre Mutter, die Witwe des Getöteten, sagt: "Man glaubt ihm ja nicht. Ich glaube ihm nicht, dass ihm das leidtut."

Freispruch in 33 Fällen gefordert

Immerhin hat sich der Angeklagte an ihren verstorbenen Mann erinnert, hat zugegeben, dass er ihn getötet hat. Auch seine Verteidigung hat diesen Fall als eindeutigen Mord gewertet. "Wenn sie da auf Freispruch plädiert hätten, das wäre eine Katastrophe gewesen", sagt die Tochter.

Doch die Verteidigerinnen von Högel fordern nicht nur, so wie die Staatsanwaltschaft, in drei der insgesamt 100 verhandelten Todesfälle Freispruch für Högel. Sie sehen in 33 Fällen den Beweis nicht erbracht, dass Högel am Tod der zum Teil schwer kranken Patienten schuldig war. Also fordern sie 33 Mal Freispruch. Dazu 13 Mal eine Verurteilung wegen versuchten Mordes und in 54 Fällen eine Verurteilung wegen Mordes.

Es ist ein undankbarer Job, den Ulrike Baumann und Kirsten Hüfken, Högels Verteidigerinnen haben. Wie soll man einen Mann verteidigen, der selbst 43 Taten gestanden hat? Dem ein Gutachter hohe Lügenkompetenz und hohe Lügenbereitschaft attestiert hat? Der immer wieder beim Lügen ertappt worden ist?

Baumann und Hüfken machen nicht viele Worte. "Die Statistiken sprechen gegen ihn", sagen sie. Jene Statistiken, die einen rapiden Anstieg der Todesrate nachweisen, wenn Högel Dienst hatte. "Weder wir noch Herr Högel leugnen, dass er in vielen Fällen der Täter ist. Herr Högel selbst hat erklärt, dass auf der Intensivstation Delmenhorst und auf der Station 211 in Oldenburg nicht mehrere Wochen vergangen sind, ohne dass er manipuliert hat." Das heißt, dass er fast jede Woche, später sogar fast jeden Tag Gift gespritzt hat. Aber, sagen die Verteidigerinnen: "Er kann nur wegen Taten verurteilt werden, die er begangen hat."

Es ist sein Recht, die Unwahrheit zu sagen

Und deswegen zeichnen sie bei jedem einzelnen Todesfall nach, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Mensch durch die Hand von Högel gestorben ist - oder an der schweren Krankheit, an der viele Patienten litten. Ob Wirkstoffe im Köper gefunden wurden, ob Högel sich an die Tat erinnern kann, was die Sachverständigen dazu sagten.

Es ist ein sehr schmuckloses Plädoyer. Hier werden keine juristischen Funken geschlagen, für was auch? Dass dieser Mann Jahrzehnte in Haft bleiben wird, ist klar. Das Gericht hat schon bei seinem vorherigen Prozess die besondere Schwere der Schuld festgestellt, was eine Entlassung nach 15 Jahren unmöglich macht. Aber dann kommt Verteidigerin Baumann doch noch kurz auf das Lügen zu sprechen. Es sei richtig, dass Högel zunächst einige Taten zu Unrecht bestritten habe. "Es ist nicht zu leugnen, dass er nicht nur einmal die Unwahrheit gesagt hat. Es ist das Recht eines jeden Angeklagten, auch das von Herrn Högel." Nur, und das sagt sie auch, sei es nun deutlich schwieriger ihm zu glauben.

Aber, sagt Baumann, Högel habe an der Aufklärung mitwirken wollen und selbst Taten gestanden, die nicht mehr forensisch nachgewiesen werden können - weil die Opfer feuerbestattet wurden. Als Erklärung für das Zögern, das Lügen ihres Mandanten führt die Verteidigerin die Scham an. Es sei für ihn schwer, sich als der Mensch zu präsentieren, der er zur Tatzeit, zwischen 2001 und 2005, war. Högel habe sich zunächst innere Grenzen überwinden müssen, für die es keine Norm gebe: Beim einen liegen sie bei fünf Toten, bei anderen bei 30 oder 50 Toten. Bei Högel, kann man vermuten, wohl deutlich höher.

Am Donnerstag wird das Urteil gesprochen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4475910
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.