Niels Högel hat den größten Serienmord in der deutschen Nachkriegszeit verübt. Das Landgericht Oldenburg sieht es als erwiesen an, dass der Krankenpfleger 85 Menschen getötet hat. Das Strafmaß: eine lebenslange Haftstrafe, dazu die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Wegen sechs Morden und Mordversuchen verbüßt er bereits eine lebenslange Haft. An seiner eigenen Situation ändert sich also nicht viel.
Der Prozess von Oldenburg war deswegen in erster Linie ein Prozess für die Angehörigen der Opfer. Für Menschen, die vom Rechtsstaat über Jahre hinweg abgewimmelt worden sind. Ihr Verdacht, die Mutter, der Vater, die Oma seien eines unnatürlichen Todes gestorben, wurde weggewischt, sie zerschellten an untätigen und unwilligen Staatsanwälten. Für sie war dieser Prozess die letzte Chance, zu erfahren, wie ihre Angehörigen gestorben sind.
Deshalb saß im Gerichtssaal eine Art Trauergemeinde und sie bestimmte die Atmosphäre. Der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann hat sich auf die Angehörigen fast mehr konzentriert als auf den Angeklagten. Vor Beginn des ersten Verhandlungstags hielt er sogar eine Gedenkminute ab. In jedem anderen Verfahren hätte ihm das Befangenheitsanträge eingebracht, und zwar zu Recht. Eine Gedenkminute passt nicht in ein Gericht, vor dem möglichst frei von Emotionen nach der Wahrheit geforscht werden soll. Auch wenn die Justiz zuvor noch so viel gepatzt und jetzt wiedergutzumachen hat.
Das Landgericht Oldenburg ist auf einem schmalen Grat gewandelt. Denn der deutsche Strafprozess ist ganz auf den Angeklagten ausgerichtet. Es geht nur um ihn, um seine Schuld oder Unschuld. Die Opfer sind - so kalt es klingt - oft nur nützliches Beiwerk, wenn sie etwas bezeugen können oder wenn es um die Folgen der Tat geht. Doch wenn der Verdacht besteht, dass nicht nur der Täter selbst Schuld trägt, sondern auch das System, in dem er mordete, wird von einem Gericht mehr verlangt als nur Schuldsprüche. So war es im NSU-Prozess, in dem immer auch das Versagen des Staates mitschwang, der 13 Jahre nicht erkannte, dass eine rechte Mörderbande durchs Land gezogen war. So ist es im Loveparade-Prozess, wo die Frage gestellt wird, ob Profit mehr gilt als Sicherheit. Und so ist es auch im Prozess von Oldenburg, in dem deutlich wurde, dass Niels Högel von Kollegen umringt war, die trotz unübersehbarer Alarmzeichen lieber stillhielten, als dem Ruf des eigenen Krankenhauses zu schaden. Was hier geschah, war Organversagen auf vielen Ebenen.
Es ist dem Vorsitzenden Richter hoch anzurechnen, dass er diese Duckmäuser intensiv befragte, die sich auf eine Art Generalamnesie beriefen, und sie am Ende sogar vereidigen ließ. Nun wird gegen etliche von ihnen wegen Meineides ermittelt. Es wird nicht viel herauskommen, diese Zeugen waren juristisch gut vorbereitet.
Juristen erklären oft, ein Gericht spreche nur durch sein Urteil. Das stimmt nicht. Ein Richter kann auch durch die Verhandlungsführung deutlich machen, was ihm wichtig ist. Das Oldenburger Gericht wollte nicht zulassen, dass sich Mitverantwortliche hinter einem monströsen Täter verstecken. Denn eines ist klar: Man hätte diesem Mann früher das Handwerk legen können. Eine solche Mordserie kann nur geschehen, wenn in einem Betrieb etwas grundsätzlich schiefläuft. Das Verfahren gegen Ärzte und Pfleger steht schon an.