Süddeutsche Zeitung

Prozess gegen Niels Högel:Aus Lust am Morden

  • Im Prozess gegen den ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel, der sich wegen 100-fachen Mordes vor Gericht verantworten muss, hat der frühere Chefermittler der Polizei ausgesagt.
  • Er erhebt neue Vorwürfe gegen den Angeklagten, kritisiert aber auch die Kliniken in Delmenhorst und Oldenburg, in denen Högel seine Taten beging.

Von Peter Burghardt, Oldenburg

Nun ist also der Chefermittler an der Reihe im größten Mordprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte, da bekommt der Fall Högel am Donnerstag neue Wucht. Arne Schmidt erhebt weitere schwere Vorwürfe gegen den früheren Krankenpfleger Niels Högel, der mindestens 100 Menschen umgebracht haben soll. Möglicherweise sind es sogar deutlich mehr Morde, jeden Verdacht wird man nicht beweisen können, das gehört zur Tragik dieser Sache.

Der Polizist Schmidt nennt den Massenmörder Högel einen Taktiker, einen Lügner. Er zerpflückt seine Taktik und Lügen. Er sagt: "Er macht die Angehörigen der Toten ein zweites Mal zum Opfer."

Und Arne Schmidt nimmt ebenso direkt die Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst ins Visier, in denen Högel tötete. Er konnte seine Überdosen von Herzmedikamenten an den Betten ungestört spritzen, weil niemand genau hinsehen wollte. Der enorme Verbrauch dieser Substanzen fiel offenbar schon deshalb nicht auf, weil es preiswerte Arzneimittel waren, keine teuren. Weil es die Bilanzen nicht störte. Auch das hat Schmidt als Leiter der mittlerweile aufgelösten Sonderkommission Kardio herausbekommen. Obwohl bei der Aufklärung in den Krankenhäusern anscheinend bis heute getrickst und vertuscht wird. Was der Kriminaloberrat da berichtet, ist geeignet, das Entsetzen über diese Mordserie noch zu steigern. Gegen vier Kollegen von Högel in Delmenhorst wurde bereits Anklage erhoben, gegen fünf Mitarbeiter in Oldenburg wird ermittelt. Gesonderte Verfahren sollen folgen. Noch geht es nur um Niels Högel, und wohl niemand außer dem 42 Jahre alten Täter selbst weiß mehr über diese Causa als dieser 48 Jahre alte Polizeibeamte. 30 Stunden lang hat Arne Schmidt den Angeklagten verhört, dazu diverse Zeugen. Das geschah lange, bevor im Oktober 2018 dieses Verfahren gegen Högel vor dem Landgericht Oldenburg begann; wegen sechs anderer Morde war er schon 2015 zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Jetzt sagt Schmidt als Zeuge aus. Er ist gut vorbereitet in der Weser-Ems-Halle, wo wegen der vielen Nebenkläger und Beobachter verhandelt wird. Auch medizinisch hat Schmidt einen Crashkurs hinter sich, das merkt man seinem mehr als zweistündigen Vortrag an. Er sei überzeugt davon, dass Högel nicht immer die Wahrheit sage, sagt Schmidt, "und zwar geplant und inszeniert". Er habe sich "einen Plan zurechtgelegt". Einen zynischen Plan.

Mit dem Vorsitzenden Richter Sebastian Bührmann war Niels Högel kürzlich tagelang öffentlich Tatvorwurf für Tatvorwurf durchgegangen, eine Litanei des Horrors. Bei 43 der 100 aufgeführten Todesfälle gab er zu, Medikamente injiziert, also gemordet zu haben. Manchmal erinnerte er sich genau an "Manipulationen", so nennt er die Morde. Manchmal erklärte er, in einem Fall nichts getan zu haben. Manchmal behauptete er, es in einem Fall nicht mehr so genau zu wissen. Als Erklärung für seine "Manipulationen" gab Högel Geltungssucht an, Alkohol, Drogen. Nachdem er seine Spritzen gesetzt hatte, begann er für gewöhnlich mit Wiederbelebungsmaßnahmen, die mal gelangen und häufig nicht.

In den Anfängen seien Lob und Anerkennung für seine Reanimationen tatsächlich sein Motiv gewesen sein, räumt Schmidt ein. "Bis es nur noch darum ging, zu töten."

Dem Chefermittler Schmidt fällt seit Langem auf, wie Högel seine Schuld erst dann zugibt, wenn die Beweise gegen ihn erdrückend sind. Er bekam sogar die Akten auf einem Laptop in seine Zelle gebracht. Für gerichtsmedizinische Analysen hatte die Soko Kardio 134 Leichen exhumieren lassen, nachher wurden sie wieder begraben und die Gräber neu bepflanzt. Toxikologen suchten in Gewebeproben mit immer besseren Methoden nach todbringenden Substanzen, für die Verwandten war das alles eine entsetzliche Fortsetzung ihres Leids.

Viele Angehörige wissen bis heute nicht, ob ihr Vater oder ihre Schwester eines natürlichen Todes gestorben ist oder deshalb, weil niemand in den Krankenhäusern Niels Högel stoppte. Einige der Toten konnten nicht exhumiert werden, weil sie eingeäschert wurden.

Statt Empathie eher Narzissmus

Schmidt hat den Eindruck, dass Högel dosiert zugibt und abstreitet, um glaubwürdig zu wirken. Ein kalkuliertes Spiel, wobei dem tötenden Krankenpfleger in den Gesprächen anscheinend unkontrollierte Zitate entwichen. Einen Toten soll Högel bei der Befragung "quadratisch, praktisch, gut" genannt haben, wegen dessen Körperfülle. Ein anderes Mal sei ihm die schlechte Gesundheit eines Patienten "Vorlage" gewesen. Die Geburt seiner Tochter habe er mit einer "Manipulation" gefeiert, um in Stimmung zu bleiben.

Niels Högel hört sich das alles äußerlich ungerührt an. Statt Mitgefühl und Empathie entdeckt der Fahnder Schmidt bei dem Angeklagten nach wie vor Narzissmus. Erst war er Herr über Leben und Tod, jetzt über Lüge und Wahrheit. Erst habe er "beim Leben seiner Tochter geschworen, in Oldenburg keine Taten begangen zu haben", sagt Schmidt. Jetzt sollen es dort 36 Morde oder mehr gewesen sein, der Rest in Delmenhorst.

Man weiß nicht mal, ob Högel seinen ersten Mord wirklich erst im Jahr 2000 beging. Schmidt wirft ihm auch Körperverletzung in Högels ehemaligem Nebenjob als Rettungssanitäter vor, unnötige Intubationen, zum Glück ohne Tote.

Warum er so lange nicht aufflog? "Der bringt mir meinen Patienten um", habe mal ein Arzt gerufen, zitiert Schmidt, doch es geschah nichts. Ein anderer Arzt in Oldenburg will sich nicht mehr entsinnen, dass er in Högels Kitteltasche nachsah, ob dieser eine tödliche Kaliumspritze herumtrug, obwohl Högel und andere diese Szene bezeugen. Der Kaliumexzess auf der Intensivstation war kein Anlass, Högel zu überprüfen. In Delmenhorst wurde der Zugang zu Högels Mordmittel Gilurytmal sogar erleichtert, man stufte es zum Standardmedikament herab. Ein Arzt verriet Pflegern sein Passwort zur Bestellung, erst 2005 wurde der tötende Högel ertappt.

Wenn dieser Prozess etwas für die Zukunft bringen soll, rät der Richter Bührmann Monate vor Ende des Högel-Prozesses, "dann sollte allen klar sein, dass man sich auch mit anderen Dingen als mit Wirtschaftlichkeit auseinandersetzen muss."

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SZ vom 04.01.2019/olkl
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