Prozess gegen Niels Högel:Sie nannten ihn den "Sensen-Högel"

Prozess gegen Niels Högel

Der wegen Mordes an 100 Patienten angeklagte Niels Högel kommt am Prozesstag in den Oldenburger Gerichtssaal.

(Foto: Mohssen Assanimoghaddam/dpa)
  • Im Mordprozess gegen den früheren Krankenpfleger Niels Högel sind am Donnerstag drei Zeuginnen gehört worden, die zum Zeitpunkt der Taten im Krankenhaus Delmenhorst beschäftigt waren.
  • Högel soll zwischen 2000 und 2005 in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst 100 Patienten mit Medikamenten tödlich vergiftet haben.
  • Eine Zeugin berichtet nun von dem Moment, der die Mordserie auffliegen ließ.

Von Peter Burghardt, Oldenburg

Als sie das Krankenzimmer betrat, hastete Niels Högel zur Tür. "Ich hab' nichts gemacht", sagte er. Diesen Satz hat die Krankenschwester T. nicht vergessen. Die Pumpe, die dem Patienten M. lebenswichtige Medikamente verabreichen sollte, war abgestellt. Sein Blutdruck sank. Sie kümmerte sich um ihn, ein Arzt kam. Und sie nahm ihm Blut ab, sie hatte einen Verdacht. Tags darauf starb M., er wurde 63 Jahre alt. In seinem Blut fand sich eine Überdosis des Herzmittels Gilurytmal, Wirkstoff Ajmalin, gespritzt von Högel. 22. Juni 2005, Klinikum Delmenhorst. Das war der Moment, der den Krankenpfleger Högel als Mörder auffliegen ließ.

Fast 14 Jahre später sitzt und erzählt die Zeugin T. in der Weser-Ems-Halle, in der das Landgericht Oldenburg erneut den Fall Högel verhandelt. Dem Angeklagten werden 100 Fälle zur Last gelegt, einige davon hat er zugegeben, es waren wohl noch deutlich mehr, die schlimmste Mordserie in Nachkriegsdeutschland.

Auch Frau T. hat in all den Jahren mehrfach ausgesagt, aber nie vor solchem Publikum. "Es ist alles ein bisschen größer hier, konzentrieren Sie sich einfach auf mich", rät Richter Sebastian Bührmann. Und: "Sagen Sie die Wahrheit." Der Hinweis ist wichtig, denn mit der Wahrheit nehmen es der Täter und manche Zeugen in diesem Prozess anscheinend nicht so genau.

Der Horror wird erst jetzt geklärt

Högel fuhr sich damals durch die Haare, auch das weiß die Zeugin T. noch. Er ahnte, dass er erwischt worden war. Viel zu spät. Mehr als hundert Menschen hatte er zwischen 1999 und 2005 in den Krankenhäusern Oldenburg und Delmenhorst tödliche Spritzen gesetzt, um sie auffällig und oft erfolglos zu reanimieren.

Högel wurde im Juli 2005 verhaftet, das Ausmaß seines Horrors wird erst allmählich geklärt. Die damalige Kollegin T. gilt als jene, die ihn auf frischer Tat ertappte. "Das war ja gut", sagt Richter Bührmann. "Das war der Beweis, der vieles, vieles ins Rollen gebracht hat." Aber auch die 49-jährige T. kann viele Fragen nicht beantworten. "Ich hab' nicht geglaubt, dass man so was machen kann", sagt sie und meint Högels Taten. "Ich kann es immer noch nicht begreifen."

Der Jurist Bührmann kann das nachvollziehen, einerseits. Klar, die Morde liegen lange zurück. Sie sind schrecklich. Aber je mehr darüber bekannt wird, desto schwerer lässt sich begreifen, wieso der Serienmörder nicht früher enttarnt und gestoppt wurde. Högel und etliche ehemalige Kollegen und Vorgesetzte können oder mögen sich an vieles nicht erinnern.

Ermittlungen gegen andere Klinikangestellte

Es gibt Ermittlungen und Anklagen gegen Klinikangestellte wegen Tötung durch Unterlassen, Verfahren werden folgen. Mancher Zeuge verweigert die Aussage. Oder ist wortkarg. An diesem Donnerstag will sich eine Zeugin nicht vereidigen lassen, obwohl die Staatsanwaltschaft das fordert. Aus heutiger Sicht stelle sich alles anders dar, entschuldigt sie sich. Sie fürchtet, ihr werde Schuld aufgeladen.

Der Richter, der sehr bedächtig auftritt und sehr rigoros werden kann, bleibt gelassen. Er lässt sie ohne Eid ziehen. Nach der Zeugin T. ruft er die Zeugin S. auf. Sie antwortet offener als die meisten anderen, dabei wurde sie von Mitarbeitern offenbar unter Druck gesetzt. Richter Bührmann lobt sie mehrfach, "Sie helfen uns". Nicht alle Zeugen helfen. S. schildert Episoden wie diese: "Die Alte ist ja immer noch da", habe Högel über eine ältere Patientin gesagt. "Am nächsten Morgen war die Patientin nicht mehr da." Sie war tot.

Es fiel auf, dass so viel gestorben wurde

Sie sah, wie er einem anderen Patienten etwas injizierte und abwiegelte, er habe nur einen Zugang freigelegt. Wie er S. dann bat, mit ihr rasch eine Zigarette zu rauchen, und der Alarm anging und auch dieser Patient starb. "Ich hatte keine Beweise", sagt Frau S. "Ich hatte Angst. Ich habe den Mund gehalten." Ohne Beweise, warnte sie eine Kollegin, sei das Rufmord.

So mordete Högel weiter. Obwohl auf Station über ihn geredet wurde ("Sensen-Högel"). Obwohl Ampullen gefunden wurden, die nicht hätten verwendet werden dürfen. Obwohl auch S. auffiel, dass auf Station so viel gestorben wurde.

Dass Högel sich um Lebende nicht besonders kümmerte und die Toten nicht mal für die Angehörigen zurechtmachte. Lange sieht sie ihn im Gerichtssaal an. "Tut mir leid", sagt sie. Was tue ihr leid, fragt die Staatsanwältin. "Dass ihm keiner helfen konnte." Wem? "Niels."

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