Prozess gegen Niels Högel:Nichts gehört, nichts gesehen, nichts gemerkt

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Auf seiner Station gab es eine Liste missglückter Reanimationen: Niels Högel, hier im Gerichtssaal, stach darauf klar heraus. (Foto: Mohssen Assanimoghaddam/dpa)
  • In Oldenburg läuft der Prozess gegen den ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel, der sich wegen 100-fachen Mordes vor Gericht verantworten muss.
  • Am Mittwoch haben unter anderem der leitende Oberarzt der Intensivstation und ein stellvertretender Pflegedienstleiter ausgesagt, unter denen Högel gearbeitet hat.
  • Beide behaupten vor Gericht, nichts von Högels mutmaßlichen Taten mitbekommen zu haben.

Von Annette Ramelsberger, Oldenburg

Sie haben nichts gehört, nichts gesehen, nichts gemerkt. Und sie haben auch nichts gesagt. Hört man den Ärzten und Krankenpflegern aus dem Klinikum Oldenburg zu, die über Jahre mit dem Serienmörder Niels Högel zusammengearbeitet haben, bekommt man den Eindruck, als litten sie an einer kollektiven Amnesie.

Gedächtnisverlust, überall: beim leitenden Oberarzt der Intensivstation, beim stellvertretenden Stationsleiter des Pflegediensts. Nur ein einziger Kollege erinnert sich - aber der wird von den anderen geschnitten. Seine Freundschaft zu alten Kumpels, sogar zu seinem Trauzeugen, ist zerbrochen an der Frage, ob man zur Polizei geht und auspackt. Oder ob man eben vergisst.

Weil dann Ruhe ist, für sich und das Klinikum.

So sehr haben diese Männer vergessen, dass es sogar dem immer freundlichen, immer verständnisvollen Vorsitzenden Richter des Landgerichts Oldenburg irgendwann entfährt: "Es geht hier um Tote!" Genauer gesagt um 100 Tote. Das sind diejenigen, bei denen man einen unnatürlichen Tod nachweisen kann. Vermutlich waren es viel mehr. Getötet vom größten Serienmörder der Nachkriegsgeschichte Niels Högel. Unter den Augen seiner Kollegen im Klinikum Delmenhorst, und davor schon im Klinikum Oldenburg. Dort war der Mann aufgefallen und dann mit einem guten Zeugnis weggelobt worden.

Prozess gegen Niels Högel
:Aus Lust am Morden

Ex-Krankenpfleger Niels Högel hat vor Gericht stets behauptet, er habe seine Patienten zu Tode gespritzt,um bei der Reanimation als Held dazustehen. Der leitende Ermittler hält das für eine Lüge und macht auch den Kliniken schwere Vorwürfe.

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Aufreizende Lässigkeit

Jetzt sitzt hier der damalige stellvertretende Pflegedienstleiter der Kardio-Intensivstation von Oldenburg. Der Mann hat sich mit aufreizender Lässigkeit zurückgelehnt im Zeugenstuhl. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und er kann sich an nichts, aber auch gar nichts erinnern. Nicht daran, dass es Gerede über den Krankenpfleger Högel gab auf seiner Station. Nicht daran, dass im Kollegenkreis über die unerklärlich hohen Kaliumwerte bei Patienten gesprochen wurde. Mit Kalium hat Högel bevorzugt in Oldenburg getötet.

Der Mann, der hier sitzt und schweigt, ist bis heute am Krankenhaus Oldenburg beschäftigt. Kurz vor 60, voll Erfahrung, voll Selbstbewusstsein. Er sitzt da wie ein Bär, der Fragen abschüttelt wie Wasser.

Ob ihm die vielen Reanimationen auf seiner Station aufgefallen seien? Nein, das könne schon mal vorkommen. Ob er gemerkt habe, dass Niels Högel da ständig dabei war? Nein. Ob er von einer Liste wusste, die sein direkter Chef über die Zahl der tödlich verlaufenen Reanimationen und die dabei beteiligten Krankenpfleger aufgestellt habe? Ja, von der Liste habe er gehört, aber er habe nicht gewusst, dass es um Todesfälle gehe. Und mehr sei auch gar nicht darüber geredet worden.

Am Tag vorher hatte Frank Laustermann geredet, der frühere Pfleger, der sich erinnert. Er erzählt, wie er schon im Jahr 2000 die Stationsleitung informiert habe, dass man genauer hinschauen müsse, "weil Kaliumwerte sich nicht einfach so erhöhen".

Laustermann sagte, es habe eine Fraktion auf der Station gegeben, die Högel verdächtigte und sagte, der müsse weg - weil einfach viel zu viel passiert sei. Der auch erzählt, dass schon früh der Name "Todes-Högel" auf der Station kursierte. Und dass der zuständige Chefarzt den Pfleger Högel in eine andere Abteilung abschob, weil er ein ungutes Gefühl gehabt habe.

Und als dann 2005 herauskam, dass Högel in Delmenhorst am Krankenbett eines Patienten in flagranti erwischt worden war, da soll die damalige Pflegedienstleiterin gesagt haben: "Sind wir froh, dass wir den los sind. Jetzt wollen wir aber auch nicht mehr darüber reden."

Bei der Wahrheit bleiben

Man könnte diesen Frank Laustermann, der so allein steht unter allen Kollegen, als Aufschneider abtun. Aber es gibt da diese Mails von seinem Freund, kurz bevor rauskam, dass auch Oldenburg von den Morden Högels betroffen ist. Da schreibt ihm sein alter Kollege und Freund: "Hut ab vor deiner Entscheidung. Da können sich einige eine Scheibe abschneiden."

Laustermann antwortet: "Ich werde bei der Wahrheit bleiben."

Sein Freund schreibt: "Da wird noch einiges auf die Klinik zukommen."

Laustermann antwortet, er wolle anderen Mut machen, zur Polizei zu gehen. "Högel ist wahnsinnig. Der Mord an hilfsbedürftigen Menschen, die uns vertraut haben, darf nicht umsonst sein."

Seine Freund schreibt: "Du hast echt Mut und Charakter."

Ein paar Monate später konnte sich dieser Freund dann plötzlich nicht mehr richtig erinnern. Laustermann sagt vor Gericht: "Ich war enttäuscht. Ich habe ihm die Freundschaft aufgekündigt. Das ist nicht schön, das tut auch weh."

Am gleichen Tag wie Laustermann hat auch der leitende Oberarzt der Intensivstation in Oldenburg ausgesagt, Doktor Michael H. Während sein Chef mehrmals sein Unbehagen über den Pfleger Niels Högel zum Ausdruck gebracht hatte, schafft es H. vor Gericht zu sagen, er habe davon nichts mitgekriegt. Er habe noch nicht einmal gewusst, wer Högel sei. Er habe sich erst danach ein Bild von ihm zeigen lassen - dabei war die Station gerade mal 30 Leute stark.

In der Oberarztrunde sei mal besprochen worden, dass vielleicht etwas sein könnte. "Wir sollten unsere Aufmerksamkeit erhöhen." Und er habe auch die Liste nicht gekannt, auf der stand, welcher Pfleger bei welchem Todesfall dabei war: Högel stach mit 18 Todesfällen heraus, alle anderen haben zwei, drei, höchstens zehn Eintragungen. Der Pflegechef der Intensivstation hatte darunter vermerkt: "Die Beweislage reicht keinesfalls, um die Staatsanwaltschaft zu informieren. Die Gefährdung der Abteilung, der gesamten Klinik ist nicht zu akzeptieren."

Arzt muss Eid schwören

Der Mann, der diese Liste erstellt hat, ist auch als Zeuge geladen. Er beruft sich auf sein Aussageverweigerungsrecht. Gegen ihn wird ermittelt.

Gegen den leitenden Oberarzt Michael H. aber nicht. Der Richter fragt ihn: "Sie waren der zweite Mann hinter dem Chefarzt und Sie haben von all dem nichts mitbekommen?"

Habe er nicht, sagt der Oberarzt: "Für mich war das nicht greifbar."

"Aber Sie sind schon verantwortlich für Ihre Patienten", fragt die Staatsanwältin.

"Ja, selbstverständlich", sagt der Arzt. Dann lässt ihn der Richter den Eid schwören, dass er nichts weggelassen und nichts falsch ausgesagt habe. Auf Meineid steht Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr.

Der Arzt schwört.

© SZ vom 24.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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