Fall Niels Högel:Ein Prozess, der jede Dimension sprengt

Niels Högel  Trial Over 100 More Murders Begins

Prozessbeginn gegen den Ex-Krankenpfleger Niels Högel in der Weser-Ems-Halle in Oldenburg.

(Foto: David Hecker/Getty Images)
  • In Oldenburg hat der Mordprozess um den ehemaligen Krankenpfleger Niels Högel begonnen.
  • Högel hat gestanden, 100 Patienten getötet zu haben, indem er ihnen Medikamente verabreichte.
  • Am ersten Prozesstag wendet sich der Richter an die Angehörigen der Opfer - und ermahnt den Angeklagten.

Aus dem Gericht von Annette Ramelsberger, Oldenburg

Siebenhundert Quadratmeter groß ist die Weser-Ems-Halle in Oldenburg, 350 Stühle stehen da, rot gepolstert auf Parkett, fast wie im Theater. Hier wird sonst getanzt, Abitur gefeiert, diniert. Nun aber sitzen hier Menschen, die nervös mit den Füßen wippen, immer tiefer in ihren Schals versinken und in den Händen Taschentücher zerknüllen. Hier sitzen Hinterbliebene. Aus dem Ballsaal ist ein Gerichtssaal geworden und aus den Besuchern eine Trauergemeinde. Hier findet der größte Mordprozess statt, den die Bundesrepublik je gesehen hat: 100 Morde an wehrlosen Menschen werden in den nächsten Monaten verhandelt - die Mordserie mit den meisten Opfern in der bundesdeutschen Geschichte. Von etwa 200 Taten des Krankenpflegers Niels Högel gehen die Ermittler aus.

Alles an diesem Prozess ist außergewöhnlich. Schon der Beginn. Der Richter wendet sich ganz ausdrücklich an die Angehörigen der Opfer. Und er verspricht ihnen etwas: "Wir werden mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen. Aber die vollständige Wahrheit werden wir nicht erreichen können." Denn die hängt vom Täter ab, von Niels Högel, 41, Krankenpfleger aus Wilhelmshaven. Und von seinem Erinnerungsvermögen. Das, was er schon gestanden hat, sprengt jede Dimension.

Richter Sebastian Bührmann, 51, bittet alle im Saal, sich zu erheben, zu einer Schweigeminute. Alle stehen auf, die Angehörigen, das Gericht, die Staatsanwältin, die Verteidiger, auch Niels Högel. Er steht mit gesenktem Kopf. Ein massiger Mann mit schweren Lidern, die Schläfen hoch rasiert, an den Wangen und rund um den Mund ein schwarzer Bart.

Der Richter ermahnt ihn. "Herr Högel, Sie müssen sich wirklich anstrengen und so viel wie möglich aus Ihrer Erinnerung wachrufen." Nur so kann das Gericht möglichst viele Todesfälle aufklären, nur so die vielen Angehörigen aus ihrer Unsicherheit befreien, ob auch ihre Mutter, ihr Vater ermordet wurde. 130 Menschen wurden exhumiert, doch die Untersuchungen sind nur von begrenzter Aussagekraft. Meist hat Högel mit dem Herzmittel Gyluritmal getötet, bei vielen hat er aber auch Kalium verwandt, das ist in jeder Leiche zu finden und sagt nichts aus. Und viele Tote wurden feuerbestattet, da ist kein Nachweis des Mittels mehr möglich.

Richter Bührmann sagt zu Högel: "Sie kennen mich, ich kenne Sie. Ich verspreche, fair und offen zu verhandeln - in guten wie in schlechten Dingen." Bührmann verhandelt bereits zum dritten Mal gegen Högel. 2009, 2015 und nun 2018. 2015 hat der Richter den Angeklagten bereits zu lebenslanger Haft verurteilt, wegen zweier Morde und zweier Mordversuche und wegen einer schweren Körperverletzung. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Erst gegen Ende dieses Prozesses hatte Högel ganz plötzlich dem Psychiatrischen Sachverständigen gestanden, mehr als 30 Menschen getötet zu haben. Man glaubte das zunächst nicht.

Immer wieder hat es Serienmörder gegeben, im Allgäu einen Krankenpfleger mit 29 Morden, in Berlin eine Krankenschwester mit sieben Morden. Doch dies hier sprengt alle Maßstäbe.

Die Aufzählung der Opfer dauert fast eineinhalb Stunden

Der Richter weiß, dies ist vor allem ein Prozess für die Angehörigen. Und auch der Angeklagte Högel weiß das. Noch am Vormittag des ersten Verhandlungstages sagt er unumwunden auf die Frage des Richters: "Treffen die Vorwürfe größtenteils zu?" - "Ja, auch wenn ich an manche keine Erinnerung mehr habe." Das Gericht stellt ihm nun einen Laptop mit den Krankenakten der möglicherweise von ihm getöteten Patienten in die Zelle - denn an den Krankengeschichten kann er sich besser orientieren als an den Namen.

Die Namen kommen jetzt. Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann setzt an. Und obwohl sie zu jedem Opfer nur den Namen, das Geburtsdatum und das Sterbedatum sagt, dauert es fast eineinhalb Stunden. Es ist eine Litanei des Todes, ein juristisches Requiem für Väter, Mütter, Töchter, Großeltern. Die Staatsanwältin nummeriert durch: Fall 1, Fall 2, Fall 3, Fall 4... Allein 37 Getötete im Krankenhaus Oldenburg. Und dann wieder Fall 1, Fall 2, Fall 3, Fall 4...diesmal im Krankenhaus Delmenhorst. Hier sind es 63 Patienten. Unter den Opfern: Adnan Tüter, geboren 1957, Renate Röper, geboren 1937, Lydia Brandt, geboren 1951, Herbert Becker, geboren 1922, Regina Philipp, geboren 1969. Es waren nicht nur die sehr alten, sehr kranken Menschen, die Niels Högel tötete. Es ist ganz still im Saal, niemand sagt auch nur ein einziges Wort.

Nach jedem Namen kommt das Fazit der Staatsanwältin - wie ein Refrain: "Der Angeklagte verabreichte dem Patienten ohne ärztliche Anordnung, ohne Indikation das Medikament (meist Gyluritmal), wodurch es wie beabsichtigt zu einer Reanimationspflichtigkeit kam." Sprich: Das Herz setzte aus, die Menschen kämpften mit dem Tod. Und Niels Högel eilte herbei, um sie wiederzubeleben. Oft schaffte er es nicht. Aus Langeweile habe Högel gehandelt, und um zu zeigen, wie gut er reanimieren kann, sagt die Staatsanwältin.

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