Süddeutsche Zeitung

Prozess gegen Niels Högel:"Ich kann nichts ausschließen"

Lesezeit: 3 min

Aus dem Gericht von Peter Burghardt

Für einen Moment herrscht Stille im Prozess um die Mordserie des Krankenpflegers Niels Högel. Seit Mittwoch geht das Landgericht Oldenburg mit dem Angeklagten Fall für Fall durch. Nach einigen Stunden wird die Befragung des Angeklagten fast zwangsläufig zur Litanei des Schreckens. Name des Toten, Datum des Todes, tödlicher Wirkstoff, Erinnerungen, Besonderheiten. Mindestens hundertmal wird das so gehen. Die Opfer wirken dabei häufig abstrakt, sie werden abgehakt, die Taten wirken technisch, offenbar auch für Högel selbst. Doch am Donnerstagmorgen, man dürfte etwa bei Fall 30 angekommen sein, lässt ihm die Anwältin eines Nebenklägers ein Foto reichen, ein Polizist bringt es an seinen Platz.

Das Bild zeigt einen Verstorbenen, das Publikum sieht es kaum. Der Mann starb im September 2001 auf der Station 211 der Klinik Oldenburg, wo Högel erstmals mordete. Für ein paar Sekunden spricht niemand in der für den Prozess angemieteten Weser-Ems-Halle. Sie ist mit Richtern, Anwälten, Verwandten, Zuschauern und Reportern gefüllt. Kann Högel die Person auf dem Foto erkennen? Der Angeklagte betrachtet das Porträt des Toten, dann sagt er: "Nein. Tut mir leid."

Vor allem in der Oldenburger Klinik, auf der Intensivstation für Herz-Kreislauf, habe er kaum auf die Gesichter der an Schläuchen hängenden Patienten geachtet, sondern auf die Monitore, sagt Högel. Die meisten seiner Versuchsopfer seien sediert gewesen. Es ging ihm in Oldenburg und ab 2002 noch öfter in Delmenhorst um den Kick. Um die Bestätigung der Kollegen, die anscheinend keine Ahnung hatten, dass er Menschen mit Medikamenten an den Rand des Todes führte, um dann demonstrativ zu versuchen, sie wiederzubeleben, häufig erfolglos. Einsamkeit, Drogen, Suche nach Anerkennung. "Es war dieser Mix", sagt er. "Dieses Verlangen. Dieses Gefühl." Die Opfer waren für ihn bloß Mittel zum Zweck.

Niels Högel wird gefragt, was der Anblick eines Fotos wie diesem, das den Verstorbenen zeigt, mit ihm mache. "Traurigkeit, Schuld, Schmerz", antwortet Högel. All das komme zusammen, wenn er so ein Bild sehe. "Jeder Fall tut mir unendlich leid."

Er solle doch ein Wort an den Sohn von Herrn B. richten, des Toten auf dem Foto, wird Högel gebeten. Der Sohn tritt als Nebenkläger im Prozess auf. "Ich entschuldige mich in aller Form", sagt der Angeklagte. "Wenn es irgendeinen Weg geben würde, der Ihnen helfen würde, ich würde ihn gehen." Mittlerweile, sagt Högel, "sitze ich hier, um jedem Angehörigen eine Antwort zu geben, dem ich eine Antwort geben kann."

Es ist das Letzte, was er tun kann. Vor allem für die Hinterbliebenen und auch ein wenig für sich selbst, obwohl er wegen sechs anderer Morde in einem früheren Verfahren längst zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist. "Wir hören ja, dass Sie sich zu den meisten Fällen bekennen", sagt Sebastian Bührmann, der Vorsitzende Richter. "Das einzige, was Sie den Menschen zurückgeben können, ist die Gewissheit." Noch immer wissen viele Kinder, Geschwister, Ehepartner oder Freunde nicht, ob Högel und seine Medikamente den Tod ihrer Lieben herbeigeführt haben.

Warum Högel nicht aufflog? Auch das muss juristisch geklärt werden

Bührmann ist ein fairer, besonnener Richter, und er kennt den Angeklagten Högel inzwischen gut. Er lobt seine Konzentration und mahnt ihn, sich für seine Antworten Zeit zu nehmen. Er hatte ihm sämtliche dokumentierten Fälle auf einem Laptop ins Gefängnis schicken lassen und ihn gebeten, sich auf erst 30 Todesfälle, dann sukzessive immer mehr vorzubereiten. Oft sagt Högel, ja, er erinnere sich exakt. Manchmal sagt er, nein, er könne dazu nichts sagen, "ich kann aber nichts ausschließen". Gelegentlich sagt er aber auch, er könne "eine Manipulation" seinerseits ausschließen, also einen Mord.

So geht diese Fragerunde nun in den zweiten Tag. Die Aussagen bestätigen erneut, dass Niels Högel sich von 2000 bis 2005 als Krankenpfleger auf zwei Stationen für Schwerkranke zum Herrn über Leben und Tod aufschwang. Erst in Oldenburg, dann in Delmenhorst. Wieso er nicht aufflog? Diese Frage wird noch ausführlich zu klären sein, auch juristisch.

Einmal erzählt Högel, wie ihm ein Oldenburger Arzt bei einer Rauchpause eine Spritze aus der Kitteltasche nahm und die Flüssigkeit auf die eigene Brille träufelte, um zu sehen, ob sie ausflocke. Das wäre ein Indiz für potenziell tödliches Kalium gewesen. Es handelte sich aber bloß um Natriumchlorid, Kochsalz. Oder wie derselbe Arzt Spritzen an einem Katheter kontrollierte. Ein Verdacht gegen Högel scheint also bestanden zu haben. Nur ging dem offenbar niemand ernsthaft auf dem Grund.

Immer wieder setzt Högel im Prozess Spitzen gegen seine früheren Kolleginnen und Kollegen, als liege die Schuld auch bei ihnen und beim Chaos, dass auf den Pflegestationen geherrscht habe. Das mag nicht immer von der Hand zu weisen sein. Der Massenmörder aber war er.

Teilweise liegen nur Stunden oder ein Tag zwischen Högels Taten, zuweilen Monate. "Es gab keine längeren Pausen", antwortet Högel auf Frage des Richters nach den Tat-Intervallen. Das klingt, als könnte sein Massenmord noch viel umfangreicher gewesen sein, als könnte es noch weit mehr als die 100 Fälle geben, die jetzt vor dem Oldenburger Landgericht verhandelt werden.

Dann noch ein Foto, zwei sogar. Erinnert sich Högel diesmal? Herr H., Oldenburg, verstorben am 28. September 2001, Bett Nummer 15. Todesursache wohl Lidocain. Wieder wird es still in der Halle, Hüsteln. Högel blättert und sagt ins Mikrofon: "Nein, tut mir leid." Aber er könne auch nichts ausschließen.

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