Hochwasser 2002:"Die haben uns einfach absaufen lassen"

Das Wasser verwandelte Dorfstraßen in tosende Schluchten, riss Autos und sogar Häuserzeilen mit sich. Die Elbflut versenkte im Sommer 2002 ganze Städte. Betroffene erinnern sich - und ziehen nach zehn Jahren Wiederaufbau Bilanz.

Christiane Kohl

"Mit das Unwirklichste damals waren die Autos", sagt Andreas Müller. "Es sieht einfach sehr komisch aus, wenn Sie Autos fahren sehen und da sitzt gar keiner drin." Allerdings fuhren die Autos nicht, die der Frührentner da beschreibt, sie schwammen im Wasser. So wie die Gastanks, die der Fluss aus dem Erdreich gerissen hatte, die geborstenen Balken und die Reste von Häuserwänden, die am Haus der Müllers in Weesenstein in der Nähe von Dresden vorbeitrieben. Bald darauf sah man Koffer, Flaschen, bunte Spielzeugteile und anderen Hausrat vorbeidefilieren, der aus den zerstörten Häusern in die dreckige braune Flut gespült worden war. "Besonders die Gastanks", sagt Müller, "die tanzten regelrecht auf dem Wasser."

Grimma - fünf Jahre nach der Flut

Rettung in letzter Minute: Ein Bewohner der sächsischen Stadt Grimma hilft einem anderen Mann auf, nachdem dieser im reißenden Wasser gestürzt ist. (Archivbild aus dem Jahr 2002)

(Foto: dpa)

Der Frührentner hat die Szenen von damals noch gut vor Augen: "Hier", sagt der 51-Jährige mit der weißen Baseballkappe und zeigt aufs Pflaster vor ihm, "die Dorfstraße war eine einzige reißende Schlucht." Schräg gegenüber des kleinen Fachwerkhauses der Müllers war eines der Zentren der Verwüstungen gewesen. Ganze Häuserzeilen wurden weggespült, Müller musste fassungslos mit ansehen, wie seine Nachbarn nur ein paar Meter von ihm entfernt ums Überleben kämpften, als sich ihre Wohnungen Stück um Stück in der Flut auflösten. "Wir waren ja nicht gewarnt worden!", ruft Andreas Müller, und man merkt deutlich, wie sehr trotz der langen Zeit das Erlebte in ihm brodelt. "Die haben uns einfach absaufen lassen." Fast sei es ein Wunder, dass nicht noch mehr Tote zu beklagen gewesen seien an jenem 12. August 2002.

Es war der dramatische Beginn einer Überschwemmungskatastrophe, die heute als sächsische Jahrhundertflut gilt. Nach extrem starken Regenfällen wurden an der Elbe und ihren Zuflüssen seinerzeit zahllose Bauwerke zerstört: Häuser, Straßen und Fabriken barsten wie Streichholzgebilde; im Dresdner Bahnhof standen die Eisenbahnwaggons unter Wasser, in den Museen der Stadt drohten die Kunstwerke unterzugehen.

In drei Schüben war die Flut gekommen, zunächst an Zuflüssen wie der Müglitz in Weesenstein, dann über die Elbe selbst, und parallel dazu stieg der Grundwasserspiegel extrem. Später wurden die Schäden auf fast zehn Milliarden Euro beziffert. Zahllose Menschen wurden obdachlos, andere ertranken im Dreckwasser, als sie versuchten, vom Wasser eingeschlossene Bewohner zu retten. Wieder andere verschwanden einfach von der Bildfläche wie die Webers in Weesenstein.

Gemälde in Sicherheit gebracht

Das Flüsschen Müglitz war ein reißender Strom geworden, das kleine Walmdachhaus der Webers stand recht nah am Ufer, gleich neben der Schuhfabrik am Rande des Ortes. "Nachmittags hat Herr Weber noch sein Auto auf einer Anhöhe in Sicherheit gebracht", erzählt Walter Veith, der gegenüber wohnt. Ein rotes Auto sei es gewesen. Derweil stieg die Flut weiter, Veith, der heute 75 ist, traute sich bald nicht mehr vor die Tür.

Irgendwann am Nachmittag habe er Herrn Weber noch einmal aus dem Fenster schauen sehen, "da stand das Wasser schon bis an seine Fensterbrüstung", erzählt der Rentner. Dann kam der Abend, und es gab einen Höllenlärm, weil ein Flügel der Schuhfabrik zusammenbrach. "Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster sah", sagt Veith, "war das Walmdachhaus weg." Suchtrupps schwärmten mit Booten aus, um das Ehepaar zu finden. Tage später entdeckte man die beiden Leichen ein paar Kilometer weiter flussabwärts.

In Dresden war an jenem 12. August noch alles ruhig gewesen, so schien es jedenfalls. Dirk Syndram, der Direktor des Grünen Gewölbes, war gerade dabei, die Ausstellungsvitrinen für die berühmte Diamantensammlung des Sachsenfürsten August des Starken auszusuchen, als ihn Kollegen alarmierten: Das Gemäldedepot der Sammlung "Alte Meister" sei in Gefahr. "Wir sind ins Tiefgeschoss geeilt und haben alle zusammen angepackt", berichtet Syndram. Erst wenige Jahre zuvor war das aufwendige Bilderlager fertiggestellt worden: als Tiefdepot mit modernem Regalsystem, unter dem Theaterplatz neben der Semperoper gelegen.

Braune Brühe überall

"Erst stieg das Wasser nur von unten, wir hatten ziemlich bald nasse Füße", berichtet Syndram. Dann sei die braune Brühe plötzlich "horizontal aus den Wänden geschossen". Die Museumsmitarbeiter kämpften gegen die Zeit, um kostbare Gemälde zu retten - einige größere Stücke aber bekam man nicht hinauf. "Wir haben versucht, sie an die Decke des Depots zu binden", erzählt Syndram. Stunden um Stunden wirbelten die Museumsleute in dem Keller, zur Unterstützung kamen sogar Abgeordnete und Ministeriale in das Depot hinuntergeklettert.

Auch das berühmte Türkische Zelt wurde in Einzelteilen unter die Decke gebunden. Heute gilt das historische Stück als besondere Kostbarkeit der Dresdner Museumswelt. "Genau zehn Zentimeter unter den Zeltbahnen war die Flut zum Stehen gekommen", erinnert sich der Museumsdirektor. Trotzdem habe man das Zelt später aufwendig restaurieren müssen, weil alles durchfeuchtet war. Dass etwa 2,5 Millionen Euro dafür bereitgestellt wurden, "haben wir im Grunde der Flut zu verdanken", meint Syndram heute.

Nicht nur Bilder, auch Skulpturen, Porzellane und andere Kostbarkeiten wurden in rasendem Tempo nach oben getragen. "Irgendwann hatte ich Kreislaufprobleme", sagt Syndram, "Schuhe und Anzug waren komplett durchgeweicht, und dieser schreckliche Ölgeruch der Elbe überlagerte alles." Manche Werke konnten nicht mehr gerettet werden. Deshalb entschied der damalige Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden Martin Roth später: "Nie wieder ein Tiefdepot." So wurde in der Folge die Idee eines in der Luft schwebenden Bilderlagers entwickelt, das vor einiger Zeit auch tatsächlich eingeweiht wurde: Das Depot hängt heute über dem Innenhof des Dresdner Museums Albertinum, das gleich mit saniert wurde. Auch diese Restaurierung, glaubt Syndram, wäre ohne die Flut kaum denkbar gewesen.

Landauf, landab wurde durch die Überschwemmungskatastrophe ein riesiges Konjunkturprogramm angestoßen: Da ging man plötzlich Projekte an, die beim Aufbau Ost noch als illusorisch galten. Natürlich wurde viel in den Hochwasserschutz investiert, zugleich aber pflasterte man Uferpromenaden mit feinsten Granitsteinen und steckte viel Geld in die Gebäudesanierung. So blühten viele Kommunen regelrecht auf nach der Flut.

Nun leuchten die Fassaden

Etwa das Städtchen Grimma im Osten von Leipzig. Schon während der Flutkatastrophe war Bürgermeister Matthias Berger, ein Parteiloser, als besonders mutig aufgefallen. Als das Städtchen, das an der Mulde liegt, überflutet wurde, war er stets an vorderster Front der Helfer: Berger lief mit dem Megafon durch den Ort, um die Bürger vor der gefährlichen Flut zu warnen, und er versuchte persönlich von einem Radlader aus bedrohten Menschen zu helfen - beinahe wäre der heute 44-Jährige dabei selbst umgekommen.

Heute mag Bürgermeister Berger über die Tage der Flut kaum mehr reden: "Wichtig ist doch, was wir daraus gemacht haben", sagt er. Und das ist einiges in Grimma: In zarten Cremetönen leuchten heute die Fassaden des historischen Städtchens, "der Tourismus hat sich verdreifacht", berichtet Berger stolz - die Arbeitslosigkeit sei enorm zurückgegangen.

Kommendes Wochenende soll nun auch noch die historische Brücke des Barockbaumeisters Pöppelmann wieder eingeweiht werden, die von der Flut zerstört worden war. "Damit", sagt Berger, "ist auch die letzte Wunde geschlossen."

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