Hochseilakt zwischen Wolkenkratzern:Wallenda tanzt über den Abgrund von Chicago

  • Nik Wallenda meistert zwei Hochseil-Wanderungen zwischen den Hochhäusern von Chicago
  • Zunächst absolviert er 138 Meter mit leichtem Anstieg, dann weitere 29 Meter mit verbundenen Augen.
  • Tausende Zuschauer jubeln dem Hochseilartisten zu, ein Fernsehsender überträgt live.
  • Die Wetterbedingungen sind am Ende besser als erwartet.

Von Johannes Kuhn, San Francisco

Sie sagten, der Wind sei das größte Problem, aber natürlich war der Sturz in den Tod gemeint. Denn wenn ein Mensch auf einem Seil zwischen den Hochhäusern in Downtown Chicago umherspaziert, ist die Möglichkeit des Absturzes sein unablässiger Begleiter.

Nik Wallenda wird gerne als Draufgänger bezeichnet, vor allem aber ist der 35-jährige Hochseilartist ein Profi. Schon seit seinem zweiten Lebensjahr geht der Spross der deutschstämmigen Artistenfamilie Wallenda auf dem Seil; 2012 wandelte er publikumswirksam über die Niagarafälle, 2013 über eine Schlucht im Grand Canyon - stets ohne Absicherung.

Am Sonntagabend folgte dann das bislang größte Experiment des dreifachen Familienvaters: Auf einem Seil in 150 bis 200 Meter Höhe über dem Chicago River von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer gehen; in einer ersten Etappe gut 138 Meter mit einer leichten Steigung, in einer zweiten 29 Meter mit verbundenen Augen.

Nun wird Chicago nicht nur im November "windy city" genannt, mit einer Temperatur von acht Grad herrschten nicht gerade T-Shirt-Bedingungen. Doch Wallenda hatte sich in den vergangenen Tagen betont entspannt gegeben: Der Anblick der Hochhäuser "freue ihn", der Wind sei kein großes Problem. Kritiker wiederum hatten den Stunt unter den Wetterbedingungen für zu gefährlich gehalten.

Büropartys zum Drahtseil-Event

Natürlich sind Wagemut, Kontroversen und Widrigkeiten beste Voraussetzungen für Heldengeschichten und Publikumsinteresse. Tausende waren in die Innenstadt gekommen, um dem Drahtseilakt beizuwohnen. In den Hochhäusern rundherum brannten fröhlich die Lichter, zahlreiche Firmen veranstalteten Büropartys zu dem Event. Und der Sender Discovery Channel, im schwierigen Fernsehmarkt stets auf der Suche nach Aufmerksamkeit, erreichte mit seiner Live-Übertragung in TV und Web ein Millionenpublikum.

Nik Wallenda Hochseilakt Chicago River

Nik Wallenda über den Dächern von Chicago.

(Foto: dpa)

Anderthalb Stunden später als geplant, das Publikum war des Winkens in die Kameras schon müde, machte sich Wallenda schließlich um 19:35 Uhr Ortszeit auf den Weg. Wer im Web zusah, konnte ihn in sechs Einstellungen verfolgen, unter anderem war an seiner roten Windjacke eine Kamera angebracht. Für den Fall des Falles hatte Discovery vorgesorgt: Das Signal ging mit einer zehnsekündigen Verzögerung in die Welt, um bei einem Unglück rechtzeitig abschalten zu können.

Doch das Unglück geschah nicht: Hochkonzentriert machte Wallenda Schritt für Schritt vom Leo Burnett Building zum Marina Tower West, umleuchtet von zahlreichen Scheinwerfern. Nach knapp sechs Minuten erreichte er mit einem breiten Lächeln die andere Seite - auch das Wetter hatte mit einer für das November-Chicago schwachen Windgeschwindigkeit von 25 Kilometern pro Stunde mitgespielt.

Spaziergang mit verbundenen Augen

Doch der zweite, schwierigere Teil sollte ja noch folgen: Die 29 Meter zum Marina Tower East, im Blindgang absolviert. Er wolle sich schon einmal darauf vorbereiten, bei nachlassendem Augenlicht im Alter weiter zu arbeiten, hatte Wallenda in den vergangenen Tagen gescherzt. Allerdings liegt in dem Witz auch etwas Ernsthaftigkeit, sein aus Magdeburg stammender Urgroßvater Karl kam 1978 im Alter von 73 Jahren beim Sturz vom Hochseil in Puerto Rico ums Leben.

Für Nachdenken blieb allerdings wenig Zeit: Der euphorisierte Moderator hatte gerade zum gefühlt dreihundertsten Mal betont, wie "amazing" und "incredible" die ganze Sache sei, da war Wallenda schon wieder unter dem Jubel der Zuschauer auf dem Weg. Und dies trotz verbundener Augen in einem durchaus beeindruckenden Tempo: Innerhalb von 75 Sekunden legte er den Weg zurück und erreichte sicher die andere Seite.

Nik Wallenda walks across Chicago River

Nik Wallenda jubelt nach seinem Drahtseilakt.

(Foto: dpa)

Der Rest waren erleichterte Begeisterungsrufe des Publikums - so manchem Zuschauer dürfte ein Stein vom Herzen gefallen sein, den Abend als Fan und nicht als Augenzeuge eines Hochseil-Unfalls beendet zu haben.

"Was für eine wundervolle, wunderschöne Stadt", schwärmte Wallenda auf der anschließenden Pressekonferenz professionell von Chicago. Den Presseraum hatte er mit verbundenen Augen betreten. Ein gelungener Tanz über den Abgrund ist am Ende eben doch: Showbusiness.

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