Süddeutsche Zeitung

Indien:Sturzflut im Himalaya

Nach dem Kollaps eines Gletschers werden in Nordindien Straßen, Kraftwerke und Brücken durch Schlamm- und Wassermassen zerstört. Mehr als 20 Menschen sterben, mehr als 170 werden noch vermisst.

Von Titus Arnu

Die 7816 Meter hohe Nanda Devi in Indien gilt als heiliger Berg. Der Name des zweithöchsten indischen Gipfels bedeutet "Göttin der Freude". Mehrere gewaltige Gletscher rund um das Massiv speisen den Ganges. Die wasserreiche Gegend im Bundesstaat Uttarakhand an der Grenze zu Tibet spielt eine wichtige Rolle bei der Stromgewinnung in Nordindien. Mehrere Wasserkraftwerke sind dort zurzeit im Bau.

Am Sonntag brachte die Göttin der Freude Unglück über die Region. Ein großer Teil des Nanda-Devi-Gletschers kollabierte, löste eine Eis- und Schlammlawine sowie eine Sturzflut aus. Die Wassermassen ließen die Flüsse Alaknanda und Dhauliganga anschwellen. Mehrere Staudämme wurden weggerissen, Kraftwerke, Häuser und Straßen zerstört. Mindestens 26 Menschen starben in den Fluten, 171 Personen wurden am Montagabend (Ortszeit) noch vermisst.

"Es gab eine Staubwolke, als das Wasser kam. Der Boden wackelte wie bei einem Erdbeben", sagte der Anwohner Om Agarwal im indischen Fernsehen. Die meisten Opfer gab es auf einer Baustelle für ein Wasserkraftwerk. Mindestens 37 Arbeiter wurden in einem zweieinhalb Kilometer langen Stollen eingeschlossen. Mehr als 100 weitere Arbeiter gelten als vermisst. Armee und Polizei versuchten, zu den Verschütteten vorzudringen. Für die angrenzenden Gebiete flussabwärts gaben die Behörden eine Katastrophenwarnung heraus.

Ähnliche Staudämme wie an der Nanda Devi entstehen in Nepal, Sikkim und Tibet, zum Teil auch mit chinesischer Unterstützung. Von den Wasserkraft-Großprojekten im Himalaya erhofft sich die indische Regierung einen Entwicklungsschub für das gesamte Land. Umweltschützer und Wissenschaftler warnen schon länger vor den Risiken solcher Bauten. Die ökologischen Folgen sind wegen des veränderten Wasserhaushalts in Tausenden Kilometer Entfernung zu spüren. Und die Gefahren durch Erdbeben, ausbrechende Gletscherseen und Schlammlawinen sind im Himalaya kaum abzuschätzen.

Eine 2019 veröffentlichte Studie warnte vor der wachsenden Geschwindigkeit der Gletscherschmelze im Himalaya. Die Eispanzer im höchsten Gebirge der Welt schwinden doppelt so schnell wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Für die Studie verglichen Wissenschaftler Satellitenaufnahmen und Klimadaten der vergangenen 40 Jahre aus Indien, China, Nepal und Bhutan. Fazit der Forscher: Die Himalaya-Gletscher haben in den vergangenen vier Jahrzehnten ein Viertel ihrer Masse verloren.

Mehr als 800 Millionen Menschen sind direkt oder indirekt abhängig vom Wasser aus dem Himalaya. Der wichtigste Rohstoff der Region wird für die Landwirtschaft, Strom und Trinkwasser benötigt. Wenn die große Schmelze so weitergeht, wonach es derzeit aussieht, wird es mittelfristig zu massiven Problemen kommen. Einer anderen Studie zufolge hat sich der Abfluss von Schmelzwasser durch die Klimaerwärmung um den Faktor 1,6 erhöht. Die Folge: Es entstehen schwer einsehbare und unkontrollierbare Gletscherseen, die jederzeit ausbrechen und Täler überfluten können - so wie jetzt an der Nanda Devi.

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