Süddeutsche Zeitung

Hilfe nach Erdbeben in der Türkei:"Sie machen Randalierer aus uns"

Allen offiziellen Beteuerungen zum Trotz: Die Hilfe im Erdbebengebiet der Osttürkei stockt und ist schlecht organisiert. Wo Zelte verteilt werden, kommt es zu Tumulten, viele übernachten im Freien - und fürchten den ersten Schnee.

Kai Strittmatter, Van

Da hat der Vizepremier nicht genau hingeschaut. "Wir haben Rettungsteams bei jedem eingestürzten Haus", verkündete Besir Atalay schon am Montag bei einer Pressekonferenz. "Es gibt keinen Mangel an Zelten, Heizungen und Decken." Kurz: "Der Staat ist bestens organisiert." Hier, in einem ärmeren Viertel im Osten der Stadt Van, sitzt am Dienstagnachmittag die Familie Aslan. Im Freien, wie noch viele Familien. "Zelte, bitte, wir brauchen Zelte und Decken", sagt Saban Aslan. Sie haben heute Nacht aneinander geschmiegt am Lagerfeuer übernachtet. Drei Grad waren es. Die nächsten Tage ist Schnee angesagt. Seine Frau ist schwanger, es gehe ihr nicht gut, aber, sagt er, alles sei besser als drin zwischen vier Wänden zu schlafen, die über dir einstürzen, unter einem Dach, das dich erdrücken könnte. "Wenn wir nur ein Zelt hätten."

Neben den Aslans hat sich der 35-jährige Özgür Kardes mit seiner Familie eingerichtet. Er hat sich selbst ein Zelt organisiert: klein, aus rotem Stoff und ohne Boden. Drinnen sitzt die neunjährige Ayse auf der nackten Erde und macht Hausaufgaben, insgesamt drängen sich fünf Frauen und zwei Mädchen in dem Zelt, das für vier Personen gedacht ist. Kardes schaut zum Himmel: Dunkle Wolken überall, Kardes schüttelt den Kopf: einem Regenguss wird dieser Fetzen Stoff nicht standhalten. "Manchmal kommen Lastwagen mit Zelten in die Stadt. Aber haben sie gesehen, was sich dann abspielt? Das ist doch unwürdig. Wir sind doch nicht im Krieg."

Das Fernsehen wiederholt die Szenen ständig: Leute, die sich auf die Lastwagen werfen, um einen Schutz zu ergattern, Männer und Frauen, die sich um ein heruntergefallenes Zelt prügeln, der Lkw-Fahrer, der - Panik in den Augen - mit seinem Handy um Hilfe ruft. "Es ist so miserabel organisiert, sie machen Randalierer aus uns", sagt Kardes. Er und Saban Aslan wollten sich Plastikfolie kaufen, um selbst ein Zelt zu schneidern. "Aber erst musste man für einen Meter, der normalerweise 1 Lira kostet, fünf Lira zahlen. Und jetzt ist alles ausverkauft."

Beobachter sind sich einig: Die Regierung hat diesmal schneller und besser reagiert als bei Erdbeben der Vergangenheit. Rettungsteams waren schnell vor Ort, Strom- und Mobilfunknetz funktionierten bald wieder, und die ersten Zeltstädte standen schon am Montag. Bloß: Die Retter arbeiten in den Augen der Überlebenden frustrierend langsam. Aus den Dörfern in den Bergen kommen Hilferufe: einige Orte hat offenbar bis jetzt keine Unterstützung erreicht.

Die vollmundigen Erklärungen der Minister, die hier in Van auf Anweisung ihres Premiers die Arbeiten überwachen, gehen oft an der Realität vorbei. Retter erklären Journalisten hinter vorgehaltener Hand, sie hätten oft nur "primitives Gerät" zur Hand, Ärzte erklären, es fehle an vielem in den Krankenhäusern. Der Sender CNN-Türk zeigte am Dienstag ein Live-Interview mit Gesundheitsminister Recep Akdag direkt aus dem größten Krankenhaus von Van. Der Minister erklärte, alles laufe so weit gut, es bestehe keine Notwendigkeit, Patienten in andere Städte zu verlagern.

"Chaos" im Krankenhaus

Kurz darauf schaltete der Sender in den Hof einer Familie, wo man den alten Vater auf einem provisorischen Krankenbett im Freien liegen sah. "Ich habe ihn aus dem Krankenhaus hierher geholt", sagte der Sohn: "Dort war solches Chaos, keiner hat sich um ihn gekümmert." Noch immer gibt es herzerwärmende Geschichten. Die von der erst zwölf Tage alten Azra Karadirman etwa. Retter bargen den Säugling am Dienstag aus den Trümmern, die Ärzte sagten, das Mädchen werde überleben, wenig später wurden auch Mutter und Großmutter lebend geborgen.

Doch erstmals wird auch Kritik laut. Mehr als 50 Länder boten der Türkei ihre Hilfe an, Ankara hat die Angebote jedoch fast alle abgelehnt. Nur Teams aus Iran und Aserbaidschan kamen ins Land, allen anderen - darunter Israel und Armenien, aber auch Deutschland - richtete die türkische Regierung ihren Dank aus und ließ wissen, die Türkei komme sehr gut allein zurecht. In der Türkei wie im Ausland fragen sich nun Experten, ob das weise war. "Sie hätten alle Hilfe annehmen sollen, die sie bekommen können", sagt Matthew Free, ein Erdbebenexperte, der schon 1999 nach dem Erdbeben von Izmit in der Türkei geholfen hatte. "Dies ist nicht die Zeit für Stolz, oberste Priorität ist es jetzt, Leben zu retten." Am Dienstag stieg die Zahl der Todesopfer auf 432.

Im Zentrum der Kritik steht erneut die Mischung aus Nachlässigkeit, Korruption und Profitsucht, die dafür sorgt, dass im Erdbebenland Türkei bis heute die Mehrzahl aller Gebäude nicht erdbebensicher gebaut wird. "Getötet von Dieben", titelte die Zeitung Milliyet. "In den vergangenen 20 Jahren starben 20.000 Menschen bei Erdbeben, und noch immer ändert sich diese Mentalität nicht." Die "Gier der Baumafia" prangert die Zeitung Radikal an und geißelt die Regierung: In Van kollabierten auch Gebäude, die das offizielle Erdbebensiegel erhalten hatten - offenbar zu Unrecht.

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SZ vom 26.10.2011
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