Hetze gegen Verdächtigen im Mordfall von Emden:Ins Netz gegangen

Der Fall Emden zeigt, wie aus einem 17-jährigen Mordverdächtigen in kürzester Zeit ein "Killer" und "Monster" werden kann, das "kastriert" und "erschossen" werden soll. Er wirft Fragen auf nach der nötigen Zurückhaltung der Internetnutzer, aber auch nach dem ethischen Umgang der Medien mit Menschen, deren Schuld noch nicht bewiesen ist.

Viktoria Großmann und Marc Felix Serrao

Es gibt Verbrechen, die machen manche Menschen sprachlos und andere gedankenlos. Im Fall der elfjährigen Lena, die vor einer Woche im ostfriesischen Emden in einem Parkhaus missbraucht und anschließend getötet wurde, war die zweite Gruppe besonders groß.

Nur wenige Stunden nachdem bekannt geworden war, dass es einen 17-jährigen Tatverdächtigen gibt, standen Mitte der Woche die ersten Drohungen gegen den Jugendlichen im Internet. Kurz darauf stand dann ein echter Mob von circa 50 Menschen vor der Polizeiinspektion in Emden und stellte Forderungen, welche die Ermittler später als "Aufruf zur Lynchjustiz" bezeichneten.

Als der Verdächtige beim Haftrichter vorgeführt wurde, hörten Zeugen Rufe wie "Hängt ihn auf, steinigt ihn." Immer lauter wurde die Wut - bis der 17-Jährige, gegen den sie sich richtete, am Freitag überraschend frei kam. Alle Fakten sprächen gegen seine Täterschaft, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Und nun?

Was bleibt, ist ein vermutlich schwer verstörter 17-Jähriger, und ein Mob, der nicht weiß, wohin mit seiner Aufregung. Und eine Frage: Was war da los? War es wieder mal das "Internet als Stammtisch", wie die Deutsche Presse-Agentur am Freitag eine ihrer Meldungen zu dem Fall betitelte? Oder wurde die Wut anderswo vorformuliert?

Wahr ist, dass in sozialen Netzwerken wie Facebook sehr früh sehr krude Dinge zu lesen waren. Auf Kondolenzseiten, die rasch Hunderte Einträge enthielten, drückten die Mitglieder schon bald nicht mehr nur ihr Beileid für Lenas Familie aus - viele forderten die Todesstrafe für den vermeintlichen Täter. Binnen kürzester Zeit standen auch der Name und die Adresse des 17-Jährigen im Netz.

Gewaltphantasien der Facebook-Nutzer

Auf der Facebook-Seite einer Gruppe namens "Aktiv gegen Kindesmissbrauch" ergingen sich Nutzer schier in Gewaltphantasien. "Erschießen!", lautete eine Forderung, die noch vergleichsweise sanft formuliert war. "Ab in den Steinbruch", schrieb eine Nutzerin. Ein Mitglied forderte: "Sperrt ihn da ein, wo sie solche Schweine als Frischfleisch lieben." Oft fiel der Begriff "Monster".

Auch die Forderung nach einer "Kastration" war mehr als einmal zu lesen. "Wieso darf sich so jemand noch hinter der Jacke verstecken?", fragte ein Nutzer, der damit auf Fotos des Jugendlichen anspielte, die in verschiedenen Medien veröffentlicht worden waren.

Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut, verurteilte solche Drohungen am Freitag scharf: "Wer hinter den Lynchaufrufen steckt, muss die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen." Es dürfe nicht toleriert werden, dass "einige soziale Netzwerker glauben, in unserem Rechtsstaat Wild-West-Methoden wiederbeleben zu dürfen".

Der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Rudolf Egg, äußerte sich in ähnlicher Weise. Er kritisierte zudem, dass sich auch Medien teilweise der Vorverurteilung angeschlossen hätten. Namen nannte er keine.

Kritik an den Medien

Ein Blatt, das den Fall mit besonders drastischen Worten kommentiert hat, ist Bild. "Polizei verhaftet Schüler (17): Er wohnt nur 500 Meter vom Tatort entfernt", titelte die Springer-Zeitung am Donnerstag. Der Artikel begann mit den Worten: "Der miese Kindermörder von Emden (Niedersachsen): Er missbrauchte die kleine Lena (11), tötete sie und ließ ihre Leiche in einer Blutlache im Parkhaus liegen! Die Kripo ist sicher: Der Killer ist ein Schüler (17)!"

Vor allem der letzte Satz fällt auf. Die Kripo sei sicher, heißt es da - das ist schon deshalb irreführend, weil die Polizei bis zur Freilassung des Jugendlichen stets betont hatte, dass dieser der Tat nur verdächtig, aber längst nicht überführt sei und daher die Unschuldsvermutung gelte. Ein zweites, wenn auch nur stilistisches Detail ist die Großschreibung, die zumindest optisch offenbar jeden Zweifel ausschalten soll: "DER KILLER IST EIN SCHÜLER!"

Vermutlich auch aufgrund solcher Berichte kritisierte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, das Vorgehen der Ermittler in Emden. "Die Polizei hat gravierende Fehler gemacht", sagte Pfeiffer am Freitag. Trotz dürftiger Verdachtsmomente hätten sie den Jugendlichen öffentlich in Handschellen vorgeführt. Durch die Aufrufe zur Lynchjustiz habe dieser dann "den blanken Horror erlebt".

Die Polizei habe damit rechnen müssen, dass sich der Name des Verdächtigen im Internet in Windeseile verbreite: "Wenn die Polizei jetzt nicht sehr schnell den Hauptschuldigen findet, dann bleibt es für ihn ein Spießrutenlauf."

Die Hetzer selbst stehen am Pranger

Zumindest mit seiner letzten Befürchtung dürfte Pfeiffer falsch liegen. Denn so schnell die Wut im Netz hochgekocht war - so schnell war sie auch wieder verpufft. Oder besser: Sie hatte sich um 180 Grad gedreht. Nach dem 17-Jährigen standen nun die Hetzer selbst am Pranger. "Hoffentlich schämen sich die Leute im Mob!", schrieb eine Facebook-Nutzerin. Ein Anderer meinte: "Da sieht man mal wieder, wie Facebook auch der Ungerechtigkeit zugutekommen kann, wenn 50 Mann jemanden lynchen wollen, der nix getan hat, bevor seine Schuld/ Unschuld überhaupt bewiesen ist (. . .) so was geht gar nicht."

Der Medienethiker Rüdiger Funiok sprach in einer Deutschlandradio-Kultur-Sendung mit dem Titel "Lynchjustiz 2.0?" von einem "virtuellen Stammtisch", der noch lernen müsse, sich "zurückzuhalten". Was er nicht sagte, war, dass dieser Stammtisch, anders als andere Stammtische oder als Redaktionen getarnte Stammtische, zum Glück so groß ist, dass keine Blödheit lange unwidersprochen stehen bleibt.

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