Prozess in Hessen:Gefahr unterschätzt

Prozess wegen im Dorfteich ertrunkener Kinder

Erloschene Kerzen am Löschteich: Am 18. Juni 2016 sind hier drei Geschwister im Alter von fünf, acht und neun Jahren beim Spielen ertrunken.

(Foto: Uwe Zucchi/dpa)

Ein hessischer Bürgermeister steht vor Gericht, weil drei Kinder im Dorfteich ertranken. Die zentrale Frage ist: Hätte er einen Zaun am Ufer bauen müssen?

Von Thomas Hummel, Schwalmstadt

Seigertshausen, 700 Einwohner, duckt sich in die Hügel des Knüllgebirges mitten auf dem hessischen Land zwischen Kassel und Marburg. Tiefe Provinz, fern jeder Aufmerksamkeit, normalerweise. Und doch richten viele Bürgermeister in Deutschland jetzt ihren Blick hierher, denn einer der ihren steht seit Donnerstag vor Gericht: Klemens Olbrich, 62, Bürgermeister der Stadt Neukirchen, zu der Seigertshausen gehört. Er ist angeklagt, weil in seinem Dorf drei Kinder in einem Teich ertrunken sind. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.

Der Teich, groß wie ein halbes Fußballfeld, liegt am Ortsrand, daneben eine Hütte, die man für Feste mieten kann, nebst Beachvolleyballfeld. Zu Beginn des Prozesses vor dem Amtsgericht Schwalmstadt präsentiert Olbrich eine alte Postkarte: Menschen, die im Schlauchboot übers Wasser paddeln.

Prozess wegen im Dorfteich ertrunkener Kinder

Klemens Olbrich, Bürgermeister von Neukirchen, beantwortet vor Prozessbeginn im Amtsgericht Journalistenfragen.

(Foto: dpa)

Am Abend des 18. Juni 2016 haben sich an dem Dorfteich dramatische Szenen abgespielt: Ein elfjähriger Junge sucht drei seiner fünf Geschwister. Sie sind nach dem Essen zum Spielen rausgegangen. Da sieht er seinen fünf Jahre alten Bruder im Wasser treiben, ruft Nachbarn zu Hilfe. Zwei Männer ziehen das Kind an Land, aber es kann nicht wiederbelebt werden. Die beiden weiteren Geschwister sind noch immer verschwunden, irgendwann sucht das halbe Dorf nach dem achtjährigen Mädchen und dem neunjährigen Jungen. Doch auch sie sind ertrunken, im Laufe des Abends ziehen Rettungskräfte die beiden vom Grund des Teichs. Zumindest eines der Kinder konnte nach Aussage der Mutter schwimmen.

Die rechtliche Frage lautet: Ist jemand verantwortlich für den Tod der Kinder? Oder war es ein tragischer Unfall?

Ein Verfahren gegen die Mutter wegen Missachtung der Aufsichtspflicht wurde eingestellt. Hingegen kam die Staatsanwaltschaft Marburg zu dem Schluss, die Stadt Neukirchen hätte als Eigentümerin den Teich sichern müssen. Weil es sich um einen Löschwasserteich handle, der laut einer DIN-Vorgabe mit einem 1,25 Meter hohen Zaun hätte umrandet werden müssen. Und weil Teile des Ufers durch Pflasterarbeiten steil und rutschig gewesen seien und es damit "objektiv vorhersehbar gewesen ist, dass das Herausgelangen aus dem Teich erschwert oder gar unmöglich ist", zitiert die Staatsanwältin aus der Anklageschrift. Olbrich habe als Bürgermeister die Verkehrssicherungspflichten missachtet. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft.

Den Teich gebe es seit 200 Jahren, nie sei etwas passiert

Olbrich ist seit 1990 im Amt, Mitte des Jahres will er aufhören. Er sagt im Gericht, das Unglück belaste ihn schwer. Einer Schuld sei er sich aber nicht bewusst. Den Teich gebe es seit 200 Jahren, nie sei etwas passiert, und nie habe sich jemand beschwert, dass der Teich gefährlich sei. Er werde seit Jahren für alle möglichen Zwecke genutzt, "als Badeteich, Fischteich, Freizeitteich". Er sei genauso gefährlich wie jedes andere Gewässer.

2018 sind in Deutschland 504 Menschen ertrunken. So etwas gehört nach Olbrichs Ansicht zum allgemeinen Lebensrisiko. Wenn es anders wäre, müsse man alle Gewässer sichern, was unmöglich wäre. Er hätte auch gar nicht anweisen können, einen Zaun zu bauen, sondern die Stadtverwaltung hätte es empfehlen und der Stadtrat die Kosten genehmigen müssen. Das wäre aber nie geschehen, glaubt Olbrich, weil niemand einen solchen Zaun gewollt hätte.

Seit dem Unglück stehen um den Teich herum fünf rot umrandete Schilder mit Piktogrammen eines um Hilfe winkenden Schwimmers. Sie sollen wohl auch Kinder, die nicht lesen können, vor dem Baden warnen. Auf einem Steg stehen Kerzen, längst erloschen, daneben eine Fußballerfigur aus Keramik, im Deutschlandtrikot. Auf die Frage, warum der Teich auch nach dem Unglück nicht gesichert worden sei, sagt Olbrich: Man wolle erst das Urteil abwarten, das im März ergehen soll.

Die öffentliche Meinung weiß Olbrich hinter sich. Als Verteidiger nahm er sich den in der Gegend bekannten Rechtsanwalt Karl-Christian Schelzke, Direktor des hessischen Städte- und Gemeindebundes. Als einige Bürgermeister zur, wie sie sagen, "moralischen Unterstützung" ins Gericht kommen, begrüßt sie Schelzke per Handschlag und sagt: "Überlegt euch gut, ob ihr noch einmal antretet. Bürgermeister werden für alles verantwortlich gemacht, sogar für ungewollte Schwangerschaften."

Prozess wegen im Dorfteich ertrunkener Kinder

Ein Schild warnt jetzt am Löschteich von Seigertshausen vor der Gefahr des Ertrinkens.

(Foto: dpa)

Nach den ersten Zeugenaussagen wird klar, dass die Sache kompliziert werden könnte für den Angeklagten. Einer der Nachbarn, die den ersten Jungen aus dem Wasser bargen, berichtet, er habe den zweiten Helfer aus dem Teich ziehen müssen. Der Einsatzleiter der Rettungsschwimmer sagt, seine Leute hätten eine Leiter ins Wasser gestellt, weil auch sie es nicht raus schafften.

Die Mutter, 34, sagt, sie sei aufs Land gezogen, damit die Kinder die Freiheit hätten, draußen zu spielen. Vor dem Wasser habe sie aber immer gewarnt. Der Vater, 37, fügt hinzu, normalerweise seien die Kinder nie allein unterwegs gewesen. Dann bricht er weinend zusammen.

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