Süddeutsche Zeitung

Herbst:"Laub setzt den modernen Menschen unter Druck"

Jedes Jahr gibt es den gleichen Streit um die Beseitigung der toten Blätter. Wie konnte es so weit kommen?

Von Thomas Hummel und Hannes Vollmuth

Beginnen wir gleich mal mit dem Schuldigen: Laub. Laub in großen Mengen. Im Garten. Auf Gehwegen. Im Park. Alleine in den fünf größten deutschen Städten sinken jeden Herbst - nach Schätzung des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU) - 86 000 Tonnen Laub zu Boden. Das ist nicht nur ganz schön viel Laub, sondern auch ganz schön viel Streitpotenzial. Denn wenn der eine beim Anblick von buntem Herbstlaub wohlig seufzt, schimpft der andere erbost über glitschige Geh- und Fahrradwege und verstopfte Gullys.

Und die Frage ist: Wo soll das ganze Laub denn hin? Die nun beginnenden Laubbläser-Wochen werden wieder mehr über Deutschland erzählen, als es der Tatort in 100 Folgen könnte. Kaum sind die ersten Blätter still und tot vom Baum gesegelt, entfaltet sich ein Konflikt, der sich, ein kleines bisschen zugespitzt nur, auch mit Boxkampfüberschriften beschreiben ließe: Anwohner gegen Stadtreiniger. Laubsauger gegen Rechen. Igel gegen Bosch ALS 25. Ruhebedürfnis gegen Gründlichkeit. Ja: Mensch gegen Laub.

Da sind zunächst die Stadtreinigungen. Die haben die Aufgabe, das Laub zu beseitigen, was auf Anwohner manchmal so wirkt, als würde eine feindliche Armee in neonfarbenen Rüstungen mit Hightech-Waffen durch die Straßen und Parks marodieren, fauchend, röhrend, tosend. Die meist hauptamtlichen Laub-Entferner tragen einen Zwei- oder Viertaktmotor auf dem Rücken, manchmal einen Elektromotor, dazu halten sie ein Rohr in der Hand. Manch einer trägt Kopfhörer, was schlau ist bei bis zu 112 Dezibel, also der Lautstärke eines Presslufthammers. Ratsamer wäre: Atemschutzmaske. Die Geräte wehen neben Laub auch Feinstaub, Schimmelpilze, Sporen und pulverisierten Hundekot in die Luft. Weil zudem jede Menge Frösche, Spinnen, Vogeljungen, Regenwürmer und Igel unter dem Geblase leiden respektive darin umkommen, ist der Laubbläser ein besonders verachtetes Gerät. "Eine neue Geißel der Menschheit", so nannte ihn einmal ein Landtagsabgeordneter der bayerischen Grünen, im Ernst.

Geht es nur um den Lärm, steht das Recht auf der Seite der Stadtreiniger. So stellte der Umweltausschuss des bayerischen Landtages fest, dass Lärmschutz Angelegenheit des Bundes und der EU sei, weshalb flächendeckende Einschränkungen von Maschinen nicht zulässig seien. Da helfen nur lokale Initiativen wie in Starnberg, wo die Stadt freiwillig auf Laubbläser verzichtet und an die Bevölkerung appelliert, das Gleiche zu tun. Großstädte hingegen halten an den Geräten fest. Alleine in Berlin fallen 110 000 Kubikmeter Laub pro Herbst auf die Straßen. Der Großteil wird kompostiert, der Rest, weil er verunreinigt ist, verbrannt - aber ohne Laubbläser geht vorher nichts. Ein Sprecher der Berliner Stadtreinigung sagt, die Sicherheit der Wege stehe schließlich im Vordergrund, "aber auch die Kosten". Ein Laubbläser leiste je nach Untergrund, Laubart und Feuchtigkeit ungefähr so viel wie drei bis zehn Mitarbeiter mit Rechen.

So sah man das früher auch bei der Holding Graz. Die Gesellschaft ist in der zweitgrößten Stadt Österreichs für die Sauberkeit zuständig und muss seit 2014 ohne Laubbläser auskommen. Damals setzte die Regierung der Steiermark ein Verbot der Geräte für die Stadt Graz sowie der Ortschaften Leibnitz und Kaindorf an der Sulm durch. Allerdings nicht wegen des Lärms, sondern weil die Uni Graz prognostizierte, die hohen Feinstaubwerte würden dadurch gesenkt. "Unsere Begeisterung hielt sich in Grenzen", sagt Gerald Pichler, Sprecher der Holding, heute im Rückblick.

Es ist wie Schnee schippen, nur komplizierter

Die Gesellschaft beschäftigte 200 Mitarbeiter für die Laub-Beseitigung, ohne die 30 Laubbläser glaubte man, 80 zusätzliche Kollegen einstellen zu müssen. Die Bilanz nach drei Jahren: Nicht einer kam hinzu. Pichler sagt: "Das Verbot ist intern gar kein Thema mehr." Schön, diese Grazer Stille. Die eigentliche Frage aber ist: Sollte man das Laub nicht gleich liegen lassen? Warum eigentlich nicht? Okay, es wird den Deutschen erst mal schwerfallen. Sie haben allein für den privaten Gebrauch in den letzten Jahren gut 500 000 Laubbläser oder -sauger gekauft, schätzt der World Wide Fund For Nature (WWF). Laubbläser-Lärm ist inzwischen Speckgürtel-Sound. Aber sinnvoll wäre es ab und zu schon, das Laub liegen zu lassen, wenigstens in den privaten Gärten, wo man auch tolerieren muss, wenn Laub vom Nachbarn auf das Grundstück weht oder fällt. Laubrechen ist ja wie Schneeschippen, nur komplizierter. Hinfällig wären damit sämtliche Laubstreitigkeiten, die vor Gerichten so verhandelt werden. Hinfällig die sogenannten "Laubrenten", die von Nachbarn gefordert werden, 500 Euro Entschädigung für das Entfernen von fremdem Laub, und die die Richter meist mit der Begründung abbügeln: "jahreszeitlich bedingte und beschränkte Einwirkung". Die Deutschen haben jede Menge Herbstgedichte, von Rilke, Mörike, Theodor Storm, aber bei Laub kennen sie keine Muße. Da übertragen sie den Ordnungssinn aus dem Haus inzwischen auf den Garten. Oder wie es Martina Borowski von der Baumzeitung sagt: "Laub setzt den modernen Menschen unter Druck." Borowski lebt in Niedersachsen, sie kennt den Streit seit 20 Jahren. Die Baum-Expertin rät: "Man kann ja das Laub auch zu Haufen aufrechen, was dann wiederum den Igel freut." Und nicht nur den Igel, auch Schmetterlingslarven, Glühwürmchen, Marienkäfer, Molche und Falter. Und wenn man das Laub gleich liegen lässt, freut sich auch der Baum. In den Blättern sind wichtige Stoffe. "Und eigentlich will der Baum die ja zurück." Umwelt- und Naturschutzorganisationen sind derselben Laub-Meinung: liegen lassen oder zumindest unter Hecken und Sträucher rechen. Überhaupt der Rechen. Borowski hält ihn nicht nur für leiser und umweltschonender. "Rechen ist doch auch Sport", sagt sie. Und erwähnt noch schnell, dass es gerade für Kinder nichts Schöneres gibt, als in Laubhaufen zu springen und Herbarien zu basteln. Alles viel zu öko? Vielleicht. Wahrscheinlich hätte Rainer Maria Rilke im Jahr 2017 tatsächlich gedichtet: "Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und in den Gärten lass die Laubbläser los."

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Quelle:
SZ vom 07.10.2017/eca
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