Heckenschützen-Prozess:Verteidigung: Angeklagte waren unzurechnungsfähig

Vor rund einem Jahr starben zehn Menschen im Raum Washington durch Kugeln aus dem Hinterhalt. Nun muss sich der ältere der zwei mutmaßlichen Schützen vor Gericht verantworten. Noch immer ist das Motiv der Mörder unklar.

In den USA beginnt an diesem Dienstag einer der spektakulärsten Prozesse in der amerikanischen Kriminalgeschichte.

Rund ein Jahr nach der Serie tödlicher Schüsse aus dem Hinterhalt im Raum Washington soll sich der 42-jährige John Allen Muhammad vor Gericht verantworten.

Ihm wird vorgeworfen, zusammen mit seinem damals minderjährigen Komplizen John Lee Malvo zwischen dem 2. und dem 22. Oktober zehn Menschen getötet zu haben. Durch den Prozess wird das Grauen für viele durch den Tod zerrissene Familien wieder lebendig.

Willkürliche Todesschüsse

Drei Wochen lang versetzten unbekannte Heckenschützen vor einem Jahr die Menschen im Großraum Washington in Angst und Schrecken. Willkürlich und zu den unterschiedlichsten Tageszeiten suchten sich die beiden ihre Opfer aus, zielten an Tankstellen und Parkplätzen auf sie.

Nach jedem Mord riegelte die Polizei den Tatort großräumig ab, sperrte Autobahnen, um jedes Fahrzeug zu kontrollieren, und provozierte Staus in Rekordlänge in der dicht besiedelten Region. Viele Bürger trauten sich vor allem abends nicht mehr auf die Straße. Zahlreiche Veranstaltungen im Freien unter anderem für Schulkinder wurden aus Sicherheitsgründen abgesagt. Überall wurden die Sicherheitsmaßnahmen extrem verschärft.

Der Alptraum endete am 24. Oktober im Morgengrauen mit der Festnahme von John Allen Muhammad und John Lee Malvo auf einem Autobahnrastplatz nördlich von Washington, wo das Duo in ihrem Auto schlief.

Verteidigung: Vorurteilfreies Verfahren praktisch unmöglich

Zu den Opfern gehört der 53-jährige Dean Myers aus Maryland, dem am 9. Oktober in den Kopf geschossen worden war, als er ahnungslos sein Auto betankte. Um ihn dreht sich der Prozess gegen Muhammad. Das Verfahren findet jedoch im benachbarten Bundesstaat Virginia statt - in der Stadt Virginia Beach und damit über 300 Kilometer entfernt vom Tatort.

Ein Gericht verfügte dies mit Hinweis auf das Recht des Angeklagten auf einen fairen Prozess: In Maryland, dem Schauplatz des Mordes, sei es wahrscheinlich schwierig, eine unvoreingenommene Geschworenen-Jury zu finden.

Die Verteidigung hält ein vorurteilfreies Verfahren auch trotz der Verlegung für praktisch unmöglich, nachdem der Fall für so viel Aufsehen gesorgt und die Gemüter derart stark erregt hat. Viele Rechtsexperten meinen auch, dass das Ergebnis des Prozesses praktisch schon feststehe: die Todesstrafe.

Es werde zwar schwierig sein zweifelsfrei nachzuweisen, dass Muhammad und nicht Malvo bei dieser Tat den Finger am Abzug gehabt habe, sagen die Fachleute, und in Virginia könne nur der direkte Täter zum Tode verurteilt werden. Aber Muhammad, ein Golfkriegsveteran, sei schließlich nicht nur unter "normalem" Strafrecht, sondern zugleich auch unter einem neuen Anti-Terror-Gesetz in dem östlichen Bundesstaat angeklagt. Und bei diesem Gesetz reicht der Nachweis einer Komplizenschaft aus, um das "capital punishment", die Todesstrafe, zu verhängen.

Anti-amerikanische Gefühle und Geltungsbedürfnis

Völlige Klarheit über die Motive des mutmaßlichen Heckenschützen-Duos, das ein Vater-Sohn-Verhältnis hatte, besteht bis heute nicht. Anti-amerikanische Gefühle gepaart mit immensem Geltungsbedürfnis und grenzenloser Abenteuerlust gelten bisher als wahrscheinlicher Hintergrund der Tat.

Malvo habe gegenüber der Polizei erklärt, die tödlichen Ausflüge seien gründlich und nach dem Vorbild früherer Kriminalfälle vorbereitet worden. Die Männer gingen wie Soldaten vor, kommunizierten mit Funkgeräten und gaben einander "Deckung".

Zum Tatzeitpunkt unzurechnungsfähig?

Seine Verteidiger versuchten vergeblich, ihren Mandanten für zum Tatzeitpunkt unzurechnungsfähig zu erklären. Die Justiz wies entsprechende Anträge zurück, da Muhammad es mehrfach ablehnte, von Psychologen untersucht zu werden.

Nach dieser Entscheidung der Justiz werde der ursprünglich für sechs Wochen angesetzte Prozess vermutlich schon früher zu Ende sein, sagte Paul Ebert, ein Vertreter des Generalstaatsanwalts von Virginia, der Zeitung Washington Post. Laut US-Verteidigungsministerium ist John Allen Muhammad ein Golfkriegsveteran und damit ein routinierter Schütze. Vor 18 Jahren konvertierte er zum Islam.

Der Prozess gegen Malvo soll am 10. November beginnen - ebenfalls in Virginia, wo auch Minderjährige die Todesstrafe erhalten können. In diesem Fall soll es zunächst um die Ermordung der 47-jährigen Linda Franklin auf einem Kaufhausparkplatz in Virginia am 14. Oktober gehen. Der inzwischen 18 Jahre alte Malvo hat zugegeben, mehrere tödliche Schüsse abgegeben zu haben.

Malvo will bei dem bevorstehenden Prozess auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Bei einer Anhörung im Bezirk Fairfax bei Washington argumentierten die Verteidiger von Lee Boyd Malvo am Donnerstag, ihr Mandant sei von seinem Partner John Allen Muhammed "indoktriniert" worden.

"Indoktrination ist eine Art Geisteskrankheit", gab Malvo-Verteidiger Craig Cooley zu Protokoll. "Der Grad der Indoktrination war so hoch, dass wir dies den Geschworenen präsentieren wollen." Der 18-Jährige habe nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnen, weil Muhammad ihn einer Gehirnwäsche unterzogen habe.

Die Staatsanwaltschaft zeigte sich überrascht über die Pläne der Verteidigung. "Das wäre eine spät aufgeblühte Unzurechnungsfähigkeit, wenn es sie überhaupt gibt", zitierte die Washington Post Ankläger Robert Horan.

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