In der Schule lernen Kinder viele Dinge, die sie in ihrem späteren Leben nur selten brauchen werden. Bemäße man etwa die Gedichtanalyse, das Fach Latein oder die Mathematik jenseits der vier Grundrechenarten alleine an ihrem unmittelbaren Nutzen für das Leben eines durchschnittlichen Erwachsenen, müsste man sie wohl aus dem Lehrplan streichen. Und wenn man es ganz genau nimmt, dann könnte man heute auch das Schreiben von Hand zu dieser Liste zählen. Klar, schreiben tun die Leute dauernd und überall. Aber eben nicht mit einer Hand, sondern mit zwei Daumen. Einen Stift dürften viele hauptsächlich noch aus einem Grund benutzen: um unter eine Rechnung ihren Namen zu kritzeln.
Doch die Handschrift wird eben nicht allein am Alltagsnutzen nach der Schule beurteilt (ebenso wenig wie Mathematik und Gedichtanalyse, bei Latein wird es komplizierter). Vielmehr gilt sie vielen Lehrern und Forscherinnen als ebenso bedrohte wie überlegene Kulturtechnik, die Kindern mehr gibt als das Tippen auf dem Handy oder dem Computer: die Möglichkeit, Buchstaben, Wörter und Sätze selbst zu formen und so erst wirklich zu begreifen. Es klingt deshalb einerseits wie ein wehmütiger Abschied von der Vergangenheit und gleichzeitig wie eine Anklage an die digitale Gegenwart, wenn es jetzt heißt, dass sich die Handschrift der Schüler während der Pandemie erneut verschlechtert habe.
Das in Heroldsberg, Mittelfranken, ansässige Schreibmotorik-Institut hat im Auftrag der Bildungsgewerkschaft VBE Lehrkräfte befragt, wie sie die Entwicklung der Handschrift beurteilen, zum dritten Mal nach 2015 und 2019. Das Ergebnis: Fast drei Viertel der 841 Befragten gaben an, dass ihre Schüler und Schülerinnen langsamer und weniger leserlich schreiben. Schon in den beiden vorhergehenden Umfragen hatten große Mehrheiten einen negativen Trend beobachtet. Bei Jungen sehen die Lehrer größere Probleme als bei Mädchen, fast 30 Prozent sind der Meinung, Jungen hätten sich "sehr verschlechtert".
Die Umfrage zeigt nur die Wahrnehmung der Lehrer
Es ist, wie gesagt, eine Umfrage: Die Zahlen sagen nicht, wie gut Kinder mit der Hand schreiben, sondern wie gut Kinder aus Sicht von 841 befragten Lehrerinnen und Lehrern mit der Hand schreiben. Und wenn es in der Studie heißt, dass fast die Hälfte der Schüler nicht länger als 30 Minuten beschwerdefrei schreiben könne, ist auch das die Wahrnehmung ihrer Lehrkräfte. Und dass diese die Entwicklung kritisch sehen, bestätigen auch andere Untersuchungen. Etwa eine Studie von Germanisten der LMU in München, die noch eine weitere Erkenntnis bereithält: Während 73 Prozent der Lehrkräfte demnach der Meinung sind, dass Schüler infolge der Pandemie schlechter per Hand schreiben, geben nur 35 Prozent an, dass sie dafür besser auf der Tastatur tippen.
Unterm Strich lassen diese Zahlen den Übergang vom Analogen zum Digitalen wie eine Verlustgeschichte erscheinen. Als gehe eine Tür zu, ohne dass eine andere sich wirklich öffne. Die Studie des Schreibmotorik-Instituts kommt zu ähnlichen Schlüssen. Der Hauptgrund für den Niedergang der Handschrift in der Pandemie ist aus Sicht der Lehrkräfte "überdimensionierter Medienkonsum", noch vor mangelndem Interesse und fehlender Routine.
Doch es gibt Anlass zum Zweifel, ob der Gegensatz zwischen gutem Heft und bösem Bildschirm nicht übertrieben, die Handschrift nicht ein wenig verklärt wird. Ihre angebliche Überlegenheit gegenüber der Tastatur beruht maßgeblich auf einer US-Studie aus dem Jahr 2014, die weltweit rezipiert wurde und der zufolge handschriftliche Notizen besser im Gedächtnis bleiben als getippte. Vor zwei Jahren allerdings überprüften Wissenschaftler die Ergebnisse - und konnten sie nicht bestätigen. Das heißt nicht, dass die Handschrift überflüssig wäre, ganz und gar nicht. Aber es könnte heißen, dass der große Unterschied nicht zwischen Handschrift und Tippen besteht. Sondern zwischen Schreiben und nicht Schreiben.