Süddeutsche Zeitung

Hamburg nach dem G-20-Gipfel:"Der Schlagermove eine Woche nach G-20 ist völlig paradox"

Eine Woche nach den schweren Ausschreitungen ziehen Hunderttausende Schlagerfans mit 45 Festwagen durch die Hansestadt. Es wirkt, als habe Hamburg etwas nachzuholen.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Kommissar Matthias Hoop hat eine Rose in der Brusttasche und ein Lächeln auf den Lippen. Er hat auch diesen Samstag wieder Dienst in Hamburg, so wie vergangenen auch schon, aber diesmal ist alles anders. Vergangenen Samstag war er beim G-20-Gipfel beschäftigt, und zwar "in der Aufklärung", wie es in der Polizeisprache heißt: Mit Kollegen überwachte er das Protest-Camp in Altona. Die Stimmung war angespannt.

Jetzt ist er beim Schlagermove als Verkehrsposten im Einsatz. Er steht mit einem Kollegen am Heiligengeistfeld und schaut zu, wie sich die bunte Menschenmenge auf der Reeperbahn ausbreitet. Mit dem Handy hat er ein Foto von dem Treiben gemacht. Hoop nimmt seine Aufgabe ernst, aber er ist auch irgendwie gelöst. "Heute hatte ich schon zwanzig Mal Leute, die sagten: Ist doch viel besser als G-20", sagt er. "Das kann ich nur bejahen."

Es gibt verschiedene Arten des Weiterlebens nach einem einschneidenden Ereignis. Eine Pause einlegen und kurz durchschnaufen wäre zum Beispiel eine Möglichkeit. Viele Hamburgerinnen und Hamburger hätten sicher nichts dagegen gehabt, wenn sich ihre schöne Hansestadt am Wochenende nach dem G-20-Gipfel nicht gleich wieder als nimmermüde Event-Location gezeigt hätte mit Getöse und weitreichenden Straßensperren. Die heftigen Krawalle mit brennenden Autos und geplünderten Geschäften im Schanzenviertel, die vielen Polizisten in der Stadt, der ständige Hubschrauberlärm, die vielen Einschränkungen im Alltag - das alles hat das Treffen der wichtigsten Industrienationen vor einer Woche zu einer heftigen Belastung gemacht für die Menschen, die hier leben.

Aber Hamburg verschnauft nicht.

Das Wochenende wirkte fast, als habe die Stadt was nachzuholen. Der Schlagermove, auch bekannt als Karneval des Nordens oder "Festival der Liebe", wälzte sich mit 45 Festwagen und 400000 Partygästen durch St. Pauli. Außerdem fand in der Innenstadt ein Weltcup-Triathlon statt mit Rahmen-Wettbewerben für Jedermann: Rund 10000 Teilnehmer waren insgesamt am Start, Teile der Radstrecke waren identisch mit der des Schlager-Umzugs. Auf der Hafenstraße, auf der am vorvergangenen Wochenende noch behelmte Polizisten und Wasserwerfer gegen den schwarzen Block angetreten waren, radelten am Samstag vormittags atemlose Sportler um die Wette. Nachmittags folgte die laute Prozession der Spaßbürger. Am Sonntag kamen nochmal die Triathleten. Musste diese Ballung sein? "Trotz aller Bemühungen war es nicht möglich zu entzerren", antwortete Innensenator Andy Grote (SPD) im Hamburger Abendblatt.

Vor dem Beginn der großen Parade herrscht auf den Heiligengeistfeld schon eine sehr heitere Stimmung. Die Luft ist voll mit Stimmungsmusik. "Griiiechischer Wein", singt es aus den Boxen, und: "Heiiidi, Heiiiiidi." Die Musik-Trucks sind gut besetzt, vor dem "Party-Tower" tänzeln und trinken Menschen in bunten Perücken, Schlaghosen und Blümchenketten. Die Schwere des G-20-Wochenendes liegt hier in irgendeiner Vergangenheit, die zwar keiner vergessen hat, von der sich aber keiner die Laune kaputt machen lassen will. "Wer sich einsperren will, soll das tun", sagt Björn Jübermann aus Wolfsburg, zum dritten Mal Schlagermove-Besucher, "wir wollen feiern."

Sarah Krause aus Hummelsbüttel sagt, sie sei auf dem Weg zum Festgelände durch das Schanzenviertel gekommen und habe sich an den Horror der G-20-Krawalle erinnert. Aber jetzt denkt sie vor allem an den Spaß, den sie haben wird. Ihre Freundin Mareike Dej sagt: "Während G-20 dachte ich, das ist nicht das Hamburg, das ich kenne. Das ist eher so wie heute, ausgelassen und fröhlich." Und Axel Annink, der Sprecher des Schlagermoves für die Veranstaltungs-GmbH Hossa Hossa sagt, eine Absage nach dem Schrecken des vergangenen Wochenendes sei nie ein Thema gewesen. "Wir haben alle noch die Bilder im Kopf. Man will das auch nicht einfach vergessen. Vielleicht ist heute der Tag, einfach wieder ein anderes Lebensgefühl einkehren zu lassen."

Viele Gastronomen an der Reeperbahn freuen sich darüber, dass dem G-20-Kater eine Sause folgt, die wieder gute Umsätze bringt. Aber nicht jeder auf St. Pauli ist begeistert. In der engen Küche der Kiezkneipe "Zum Silbersack" sitzt Inhaber Dominik Großefeld und ist hin und her gerissen. Der Schlagermove ist ihm eine Hilfe nach den G-20-Tagen. Wegen Sicherheitsbedenken infolge des Gipfels hatte er eine Nacht sogar geschlossen. "Das wirft mich weit zurück." Und er weiß mittlerweile, dass er - anders als die Opfer der Sachbeschädigungen - keine staatliche Entschädigung für seine Einnahmeverluste bekommt. Im Hintergrund singt Rex Gildo "Fiesta Mexicana" und der Gastraum ist schon jetzt, am Nachmittag, ordentlich besucht mit Schlagermove-Gästen. "Ich kann den Schlagermove nicht schlecht reden", sagt Großefeld also. "Aber ich fühle mich auch den Anwohnern verpflichtet."

Die Anwohner wiederum sind keine Fans des Schlagermoves. St.-Pauli-Menschen haben es lieber rau und ehrlich, als bunt und aufgesetzt. Außerdem ist das Festival eine Belastung, die über die gewöhnliche Wochenend-Gaudi hinausgeht: noch mehr Wildpinkler, noch mehr Betrunkene, die Häusereingänge vollkotzen oder dort auch mal Sex haben. Viele auf St. Pauli bekennen sich zu einer linken, freigeistigen Nachdenklichkeit. Sie finden es natürlich gut, dass die Schlagermove-Gäste sich friedlich amüsieren: Aber die pastellfarbene, oberflächliche Fröhlichkeit des Festivals trifft nicht ihren Geschmack. Großefeld findet sie jetzt sogar seltsam. "Der Schlagermove eine Woche nach G-20 ist völlig paradox", sagt er, "wie Scheinwelten, die aufeinanderprallen."

St. Pauli feiert anders. Auch fröhlich, aber nicht ohne Bewusstsein für die gesellschaftlichen Brüche der Gegenwart. In der Bernstorffstraße, in sicherer Entfernung zum Schlagermove, findet ein Fest mit Flohmarkt und Straßenverkauf statt. Hier trägt keiner Blümchenketten und Schlaghosen. Über einer kleinen Bühne steht: "Höfegemeinschaft 117 in Gefahr!?! Verkauft an Berliner Investoren. Wir wollen bleiben/mitbestimmen!"

Rappmusik spielt. Die Menge geht mit. Und wenn man mit den Leuten spricht, spürt man, wie gegenwärtig für sie noch die Ereignisse des G-20-Gipfels und deren Aufarbeitung sind. Wie sehr sie das Gefühl haben, dass die Debatte um die linksextremistischen Gewalttäter aus dem schwarzen Block eine eher linke Lebenseinstellung unter eine Art Generalverdacht stellt und sogar eine 28 Jahre alte Institution wie das linksautonome Subkulturzentrum Rote Flora anzweifelt. "Es sind ziemlich viele Risse entstanden", sagt eine ältere Anwohnerin mit wachem Bedauern. St. Pauli tanzt und denkt. Und hadert leise mit der Welt, die um den Kiez herum ist.

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