Haiti: Port-au-Prince nach dem Beben:"Hauptsache weg aus dieser Stadt"

Lesezeit: 2 min

Tausende Haitianer versuchen, das zerstörte Port-au-Prince zu verlassen. Doch Bustickets sind teuer. Wer bleibt, muss in den Trümmern ums Überleben kämpfen.

Wer irgendwie kann, flieht. "Ich gehe überall hin, Hauptsache weg aus dieser Stadt." Mit ihrem Mann und ihren vier Kindern steht Talulum Saint Fils an einer Bushaltestelle in Port-au-Prince, dem zerstörten Hauptschauplatz des verheerenden Erdbebens auf Haiti. In den Straßen stapeln sich Leichen, seit Tagen hausen die Menschen in der haitianischen Hauptstadt im Freien - aus Angst vor Nachbeben oder weil ihr Zuhause zerstört ist. "Es gibt überhaupt keine Unterstützung und unsere Kinder können einfach nicht weiter wie Tiere leben", sagt Talulum. Unter denen, die bleiben, wächst die Gewalt.

Eine Frau bittet in Port-au-Prince um Lebensmittel. Wer nicht genug Geld für ein Busticket hat, muss in den Trümmern der Hauptstadt ums Überleben kämpfen. (Foto: Foto: dpa)

Tausende Menschen haben seit dem Beben Port-au-Prince verlassen. Wer Verwandte auf dem Land hat, kommt bei denen unter, andere fahren einfach los, sobald sie einen Platz in den überfüllten Bussen ergattern. Ein Ticket nach Fodernberg, eine drei Stunden von Port-au-Prince entfernte Kleinstadt, kostet umgerechnet zehn Dollar - doppelt so viel wie sonst. Talulums Familie hat ihren Schmuck verkauft, um die Fahrkarten zu bezahlen.

Als der Bus kommt, ist er schon überfüllt und trotzdem versuchen die Wartenden, sich irgendwie noch hineinzuquetschen. "Wir fahren doppelt so viele Menschen wie normalerweise", sagt Jaino Nony, dem mehrere Busse gehören. "Wir mussten die Preise verdoppeln, es gibt kein Benzin und die Stadt ist unsicher", verteidigt er sich. "Das ist nun mal der Preis, wenn man dieser Hölle entrinnen will."

Für Aanoz Richard, einen 40-jährigen Bäcker, war dieser Preis zu hoch. Seine Habseligkeiten reichten im Tausch nicht für ein Ticket. "Hier - das ist jetzt mein Haus und mein Bett", sagt er und zeigt auf die Straße. Die Zurückgebliebenen sind verletzt, traumatisiert - viele fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen. "Die haitianischen Regierungen haben nie etwas für ihr Volk getan", sagt Braubrin, eine Lehrerin. "Wir sind vollkommen abhängig von anderen Ländern. Aber wir können nicht einfach hier rumsitzen, inmitten von Leichen, und warten, bis uns jemand hilft."

"Es gibt keine Solidarität"

Wer in Port-au-Prince bleibt, kämpft oft völlig allein ums nackte Überleben. Folglich steigt die Gewalt- und Kriminalitätsbereitschaft, die Menschen plündern und stehlen, was sie in die Finger bekommen. Im Armenviertel Marché en Fer graben die Menschen in den Trümmern der Häuser nach Gütern und Lebensmitteln. Aus den Ruinen einer Apotheke klettern einige mit Seife, Shampooflaschen und Kosmetikartikeln in den Händen. Die herumliegenden Leichen stören sie nicht.

Mehrere Jugendliche stehen Wache. "Polizei! Polizei!", schreien sie, als zwei bewaffnete Beamte herbeieilen. Einer von ihnen ist Hernsony Orjeat. Bei dem Beben verlor der 36-Jährige seine Frau und ist nun einer der wenigen Polizisten, die versuchen, das Chaos zu bändigen. Orjeat schlägt einen der Plünderer zu Boden, der einen Karton Seife gestohlen hat. "Dafür willst du sterben?", fragte er den Mann, der für seine Beute in einsturzgefährdeten Gebäuden gewühlt hat. Die meisten sind nur auf der Suche nach Essen, doch auch Elektroartikel, Schirme oder Ventilatoren werden mitgenommen. Wer Lebensmittel stiehlt, wird laufengelassen.

Auch die Gewalt unter rivalisierenden Plünderern nimmt zu. Ein Mann hat eine Packung Cornflakes ergattert und wird flugs von einem Dutzend Menschen umringt, die sie ihm aus den Händen reißen. Ein Mann fängt an, einen anderen zu würgen, um an eine Konservendose zu kommen. Einige haben sich schon Äxte aus Holz gebaut, um für den Kampf ums Überleben besser gerüstet zu sein. Die Hoffnungslosigkeit steht Orjeat ins Gesicht geschrieben. "Wir müssten eigentlich zusammenhalten, um diese schreckliche Tragödie zu überwinden", sagt er. "Doch es gibt einfach keine Solidarität in diesem Land."

© sueddeutsche.de/AFP/Beatriz Lecumberri/Jacqueline Pietsch - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Haiti nach dem Erdbeben
:Der Kampf der Helfer

3,5 Millionen Haitianer sind nach UN-Schätzungen von dem heftigen Erdbeben nahe der Hauptstadt Port-au-Prince betroffen. Die Hilfsbereitschaft ist weltweit riesengroß - doch die Retter kommen bisher kaum an die Opfer heran.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: