Haiti nach dem Erdbeben:Hunderttausende werden umgesiedelt

Bis zu 500.000 Haitianer werden in den nächsten Tagen in Notunterkünfte gebracht. Der Internationale Währungsfonds fordert nun einen Marshall-Plan für den Karibikstaat.

Nach dem Erdbeben in Haiti will die Regierung Hunderttausende Menschen aus der zerstörten Hauptstadt vorübergehend umsiedeln. Innenminister Paul Antoine Bien-Aime nannte die Zahl von 500.000 Menschen; der Stabschef von Präsident René Préval, Fritz Longchamp, sprach dagegen von 400.000 Überlebenden der Katastrophe, die wegen der schlimmen sanitären Situation in Port-au-Prince vor der Umsiedlung in temporären Behausungen außerhalb der Hauptstadt stünden. Die Umsiedlung werde nach Fertigstellung der neuen Unterkünfte in etwa sieben bis zehn Tagen beginnen, sagte Longchamp.

Haiti nach dem Erdbeben: Nach Plänen der haitianischen Regierung sollen 400.000 bis 500.000 Menschen zeitweise in temporäre Behausungen außerhalb der Hauptstadt umgesiedelt werden.

Nach Plänen der haitianischen Regierung sollen 400.000 bis 500.000 Menschen zeitweise in temporäre Behausungen außerhalb der Hauptstadt umgesiedelt werden.

(Foto: Foto: AFP)

"Die Menschen haben die Möglichkeit, kostenlos transportiert zu werden", sagte Innenminister Bien-Aime zu den Plänen. 34 Busse würden Erdbebenopfer in den Süden und den Norden von Haiti bringen. Dort würden temporäre Unterkünfte für jeweils 10.000 Menschen gebaut. Mit lokalen Bürgermeistern werde derzeit nach entsprechenden Orten gesucht.

Im Video: In Haiti schwindet die Hoffnung auf Überlebende. Zwar gelingt es immer noch, lebende Menschen aus den Trümmern zu ziehen. Zehn Tage nach dem schweren Erdbeben stellen aber immer mehr Suchtrupps ihre Arbeit ein.

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Die Internationale Organisation für Migration schätzt, dass mindestens eine halbe Million Menschen bei dem Beben obdachlos geworden sind. Die Hilfsorganisation Habitat for Humanity rechnet mit einem langwierigen Wiederaufbau des Karibikstaates. "Die Menschen müssen in einem Zeitrahmen von zehn Jahren denken", sagte der Leiter der Organisation, Jonathan Reckford, in Washington. Deshalb sei eine nachhaltige internationale Hilfe erforderlich. Reckford, der sich in Haiti ein Bild von der Lage gemacht hatte, sprach von "einer der schlimmsten Zerstörung, die ich jemals gesehen habe".

"Es ist schwer, so zu arbeiten wie vorher, aber wir sind dabei, wieder die Kontrolle zu erlangen", sagte Präsident René Préval vor Journalisten über den Zustand der Staatsmacht. Die Hilfe laufe immer besser an. Préval wehrte sich zudem gegen Vorwürfe, die Regierung habe auf das schwere Erdbeben nicht sofort angemessen reagiert. Der Präsidentenpalast, das Parlament und der Justizpalast sowie sämtliche Ministerien seien eingestürzt und mit ihnen seien alle Dokumente vernichtet worden, begründete Préval die Handlungen der Regierung nach der Katastrophe.

Clinton fordert Jobs

Unterdessen muss die Arbeit der Bergungsmannschaften weiterhin immer wieder unterbrochen werden. Zwei weitere Nachbeben haben am Donnerstag das Katastrophengebiet in Haiti erschüttert und die notleidenden Menschen abermals in Panik versetzt. Einer der Erstöße erreichte nach Angaben der US-Erdbebenwarte eine Stärke von 4,9. Berichte über neue Schäden oder Verletzte gab es nicht. Seit dem verheerenden Beben vom 12. Januar, dem vermutlich 200.000 Menschen zum Opfer fielen, ist die Region um die Hauptstadt Port-au-Prince von mindestens 50 Nachbeben erschüttert worden.

Diese Serie von Nachbeben wird nach Ansicht der US-Erdbebenbehörd USGS noch Monate, vielleicht sogar Jahre andauern, auch wenn die Abstände der Beben größer würden.

Knapp zehn Tage nach der verheerenden Katastrophe kommt die Hilfe für Millionen Bedürftige auf Touren. Zugleich begann die Diskussion über den Wiederaufbau in dem ärmsten Land Amerikas. Nach Ansicht des UN-Sondergesandten Bill Clinton sind dafür vor allem Jobs notwendig. "Die USA haben mit solchen Programmen große Erfahrung in Nahost und in Afghanistan", sagte der frühere US-Präsident bei den Vereinten Nationen in New York.

Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon betonte, die Haitianer müssten die Tragödie, so weit es geht, in eine Chance umwandeln. Die ganze Welt stehe hinter ihnen und helfe beim Aufbau des zerstörten Landes. "Ich weiß, was das für eine große Herausforderung ist. (...) Das Volk ist vereint und zusammen mit der internationalen Gemeinschaft werden wir diese Tragödie überstehen."

Marshall-Plan für den Aufbau

Der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, forderte für Haiti Wiederaufbauhilfen nach dem Vorbild des Marshall-Plans. "Ich bin überzeugt, dass Haiti - das auf unglaubliche Weise von vielerlei getroffen wurde (...) - etwas Großes braucht", sagte er in Hongkong. Ban hält die Anfangsprobleme der Helfer für überwunden. Bei einem Gottesdienst für die Zehntausenden Toten in New York hatte er gesagt: "Ich weiß, dass es in den ersten Tagen gewisse Verzögerungen gab. Aber mittlerweile haben wir ein sehr effektives System aufgebaut, um Engpässe zu umgehen." Auch das Rote Kreuz erklärte, Hilfe komme nun an. Allerdings ist die Verteilung der Hilfsgüter immer noch äußerst schwierig.

Drei Ziele für den Wiederaufbau

Clinton betonte, den Haitianern müsse wieder ein Grund zur Hoffnung gegeben werden. "Es ist wichtig, den jungen Leuten etwas Positives zu geben, an dem sie sich festhalten können. Viele Haitianer wollen mitmachen beim Aufbau ihres Landes. Geben wir ihnen diese Chance!" Das Programm "Cash for Work" der Vereinten Nationen sei deshalb genau richtig, sagte Clinton nach einem Treffen mit Ban. "Die Phase des Rettens ist jetzt fast abgeschlossen, jetzt muss die Versorgung der Menschen und vor allem der Wiederaufbau in den Mittelpunkt rücken", betonte auch der UN-Generalsekretär.

Dafür habe er mit Clinton drei Ziele festgesetzt. "Zum einen müssen wir den Menschen helfen und sie versorgen. Zum zweiten müssen wir für Sicherheit und Stabilität sorgen. Und drittens müssen wir uns an den Wiederaufbau machen und vor allem die Wirtschaft in Haiti wieder aufrichten." Deshalb hätten die Vereinten Nationen das "Cash for Work"-Programm gestartet. Dabei bekommen die Haitianer, die Trümmer räumen oder Straßen ausbessern, fünf Dollar (3,50 Euro) am Tag.

"Nutzen wir die Gelegenheit, Haiti noch besser aufzubauen", sagte Clinton. "Man kann aus Katastrophen lernen. Die Häuser, die nach dem Wirbelsturm Katrina in New Orleans gebaut wurden, waren sicherer, energieeffizienter, moderner. Das können wir auch in Port-au-Prince machen und zum Beispiel die sanitären Anlagen verbessern." Zudem könne die Infrastruktur so ausgebaut werden, dass Haiti eher ein Ziel für Flugreisen und Kreuzfahrtschiffe werde.

Clinton empfahl den Menschen in aller Welt, Geld zu spenden. "Das ist jetzt am dringendsten. Vielleicht fragen wir Sie mal nach Decken, vielleicht fragen wir Sie mal nach Zelten, aber jetzt brauchen wir Geld." Er selbst würde vor allem an etablierte Organisationen spenden. "Ich würde fragen, ob die Institutionen schon vor der Katastrophe in Haiti gearbeitet haben. Und da gibt es viele gute Organisationen wie Unicef, das Welternährungsprogramm, Oxfam, Worldvision und andere."

Trotz der Inititativen vor Ort wollen die USA Flüchtlinge aus Haiti weiter kompromisslos zurückschicken. Die USA nähmen keine Haitianer auf, die illegal in die Vereinigten Staaten einreisten, sagte Außenministerin Hillary Clinton am. Clinton wies darauf hin, dass die US-Regierung Haitianern ohne Aufenthaltsgenehmigung, die sich zum Zeitpunkt des Erdbebens in den USA aufhielten, aus humanitären Gründen vorübergehend Asyl gewähren. Bislang gab es nach Angaben der US-Behörden keine Massenflucht von Erdbebenopfern aus Haiti in die USA.

Helfer aus aller Welt arbeiten unterdessen weiter rund um die Uhr bis zur völligen Erschöpfung. Und immer noch wurden Überlebende gefunden. Auch der schon totgesagte haitianische Justizminister Paul Denis überlebte die Katastrophe. Haitis Botschafter in Deutschland, Jean Robert Saget, korrigierte frühere Angaben. "Ich bin falsch informiert worden aus Haiti, er wurde nur verletzt", sagte Saget.

Leben in Ruinen

Das Land beginnt offenbar inmitten der Ruinen langsam wieder zu "funktionieren". So würden Zapfsäulen wieder aufgefüllt und viele Banken hätten wieder geöffnet. Der Hafen von Port-au-Prince wurde von US-Helfern weiter instandgesetzt. Er soll nun teilweise wieder geöffnet werden. So können auch Schiffe mit Hilfsgütern anlegen. Auch wurde ein Kontrollturm für den Flughafen von der US-Armee eingeflogen, der alte war durch das Beben zerstört worden.

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