Haiti nach dem Beben:Morden und Plündern in Port-au-Prince

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Plünderer ziehen mit Macheten durch die Straßen der Haupstadt, immer wieder fallen Schüsse: In Haiti bricht die Verzweiflung vieler Überlebender aus.

Im vom Erdbeben zerstörten Haiti schlägt die Verzweiflung vieler Überlebender zunehmend in Gewalt um. In der Hauptstadt Port-au-Prince kommt es immer häufiger zu Plünderungen. Am alten Markt im Stadtzentrum ging die Polizei am Sonntag mit Tränengas gegen Hunderte steinewerfende Plünderer vor.

Die Verzweiflung greift um sich - und damit auch die Mittel, zu denen die um ihr Überleben kämpfenden Menschen in Haiti greifen. (Foto: Foto: Getty)

Mit Lastwagen fuhren die Sicherheitskräfte in die Menge und versuchten so, die Menschen auseinanderzutreiben. Nach Angaben der Polizei wurde in verschiedenen Teilen der Millionenstadt auf Menschen geschossen. Die Polizei hielt Menschen davon ab, in die Innenstadt zu gehen.

Ein Polizeibeamter sagte: "Sie schießen auf jeden, Journalisten, Polizisten." Vermummte junge Männer zogen mit Macheten durch die Stadtviertel. Die Behörden warnten davor, dass sich die Gewalt weiter ausbreiten könnte. Mindestens zwei Plünderer wurden bereits von Anwohnern zusammengeschlagen und gelyncht.

Im Video: Fieberhaft suchen zahlreiche Suchtrupps, wie die Rettungskräfte der deutschen Organisation I.S.A.R., weiter nach Überlebenden. Weitere Videos finden Sie hier

Der für die militärischen Hilfsgüter-Transporte zuständige US-General Ken Keen sagte, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen die Hilfe für die Erdbebenopfer behinderten. Er halte es für möglich, dass 200.000 Menschen ums Leben gekommen sind. In einem Fernsehinterview sagte Keen: "Wir werden uns auf das Schlimmste gefasst machen müssen."

Die haitianische Regierung geht inzwischen davon aus, dass bei dem verheerenden Erdbeben mehr als 100.000 Menschen starben. Bislang wurden nach offiziellen Angaben mehr als 70.000 Leichen geborgen.

Die Chancen, noch Lebende aus den Trümmern zu bergen, die das Erdbeben hinterlassen hat, schwinden zusehends, doch kleine Wunder geschehen immer wieder. Fünf Tage nach der Naturkatastrophe wurde am Sonntag ein dänischer UN-Mitarbeiter lebend aus den Trümmern des Hauptquartiers der Vereinten Nationen in der Hauptstadt Port-au-Prince gerettet worden.

Die britische BBC zeigte Bilder, auf denen der Mann, dessen Name mit Jens Tranum Kristensen angegeben wurde, auf einer Trage lag und die Arme bewegen konnte. Kurz zuvor hatte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon das zerstörte Gebäude besucht und dort der toten und vermissten UN-Mitarbeiter gedacht. Ban bat die Opfer der Katastrophe um Geduld.

Regierung verhängt Ausnahmezustand

Am Samstag habe das Welternährungsprogramm (WFP) 40.000 Menschen versorgen können. Die Zahl werde innerhalb von zwei Wochen auf eine Million steigen. 14 Tage später würden etwa zwei Millionen Menschen versorgt werden können, sagte Ban am Sonntag in Port-au-Prince nach Angaben der Vereinten Nationen.

Die haitianische Regierung rief in dem zerstörten Karibikstaat den Notstand aus. Der Ausnahmezustand gelte bis Ende Januar, teilte ein haitianischer Minister am Sonntag in der Hauptstadt Port-au-Prince mit. Zudem gelte für den Zeitraum von einem Monat eine nationale Staatstrauer.

Die UN setzen bei ihrer Hilfe nach Angaben Bans drei Prioritäten. Die Erste sei es, Leben zu retten. Eine weitere Priorität sei die Versorgung der Opfer. Das Wichtigste sei jedoch die Koordination. Die gesamte Lage verlange eine starke und effektive Koordination durch die Vereinten Nationen sowie zwischen den UN und den anderen Beteiligten. Vor allem seien dabei die USA zu nennen.

Ban gab zu Bedenken, dass die Kapazität des Flughafens von Port-au-Prince begrenzt sei. "Wir müssen sicherstellen, dass unsere Hilfe zu den Bedürftigen so schnell wie möglich gelangt." Es dürfe keine Minute und kein Dollar verschwendet werden. "Es ist eine riesige humanitäre Krise, deren Ausmaß wir jetzt noch gar nicht überblicken können, besonders außerhalb der Hauptstadt." Massive Hilfe sei nötig.

Immerhin verbessert sich Berichten zufolge langsam die Versorgung mit Trinkwasser, Nahrungsmitteln und medizinische Hilfe in Port-au-Prince.

23 Deutsche vermisst

Die Europäische Union will mehr als eine Million Euro Wiederaufbauhilfe für den Karibikstaat freigeben. Wie am Sonntag aus Diplomatenkreisen verlautete, soll diese Summe am Montag auf dem Krisentreffen der EU-Entwicklungsminister in Brüssel angekündigt werden. Die Endsumme könne sogar bei mehr als 200 Millionen Euro liegen, dies hänge aber vom weiteren Verfahren ab, sagte der EU-Diplomat weiter.

Das Geld ist demnach für die mittel- und langfristige Entwicklung geplant und wird zusätzlich zu der bereits zugesagten Soforthilfe der EU-Länder bereitgestellt. Die Mittel sollen von EU-Fonds abgezweigt werden, deren Budget bislang noch nicht ausgegeben wurde. Nach Angaben des niederländischen Außenministers Maxime Verhagen erwägt die EU zudem die Entsendung einer Polizeimission in das zerstörte Land.

In Haiti werden noch 23 Deutsche in den Trümmern vermisst. Dies gab Außenminister Guido Westerwelle am Sonntagabend in der ARD bekannt. Am Samstag lag die Zahl der vermissten Deutschen noch bei 30. Bislang wurde ein deutsches Erdbebenopfer in Haiti geborgen. Am Wochenende konnten Suchtrupps in Port-au-Prince nach Angaben der Caritas 50 weitere Überlebende aus den Trümmern ziehen.

© AFP/APD/dpa/Reuters/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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